Zum ersten Mal verliebt
ungemachten Bett liegen. Und Mrs Anderson war tot! Da gab es gar keinen Zweifel. Neben der Tür saß - äußerst lebendig - eine große, schlampige, rothaarige, rotgesichtige, ungeheuer fette Frau, die in aller Gemütsruhe eine Pfeife rauchte. Sie schaukelte untätig hin und her inmitten eines heillosen Durcheinanders und ignorierte das durchdringende Geschrei, das aus einer Wiege in der Mitte des Zimmers drang. Rilla kannte die Frau vom Sehen und kannte auch ihren Ruf. Sie hieß Mrs Conover und wohnte unten im Fischerdorf. Sie war eine Großtante von Mrs Anderson und trank genauso viel, wie sie rauchte.
Rllas erster Gedanke war: Nichts wie weg! Aber sie überlegte es sich anders. Auch wenn sie noch so abstoßend aussah, vielleicht brauchte diese Frau ja Hilfe. Andererseits machte sie nicht den Eindruck.
»Komm rein«, sagte Mrs Conover, nahm ihre Pfeife aus dem Mund und starrte Rilla mit ihren kleinen Rattenaugen an.
»Ist - ist Mrs Anderson tot?«, fragte Rilla ängstlich, während sie näher kam.
»Mausetot«, antwortete Mrs Conover und grinste. »Hat vor ’ner halben Stunde ins Gras gebissen. Ich hab Jen Conover losgeschickt, damit sie den Leichenbestatter anruft und Hilfe holt. Du bist die Kleine vom Doktor, was? Stuhl gefällig?« Rilla sah keinen einzigen Stuhl, der nicht voller Zeug war. Also blieb sie stehen.
»Ist sie - ist sie nicht ein bisschen plötzlich gestorben?« »Naja, sie ist abgesackt, nachdem Jim, dieser Nichtsnutz, nach England abgehauen ist. Der Kleine da ist vor vierzehn Tagen geboren. Seitdem ging’s immer mehr bergab mit ihr. Und heut ist sie mit einem Schlag gestorben. Keiner hat damit gerechnet.« »Kann ich irgendetwas tun? Kann ich irgendwie helfen?«, fragte Rilla zögernd.
»Nein, lass nur! Es sei denn, du kannst mit Kindern umgehen. Ich kann’s jedenfalls nicht. Der Kleine da kreischt am laufenden Band, Tag und Nacht. Ich hab mir gedacht, ich hör einfach nicht mehr hin.«
Rilla schlich auf Zehenspitzen zur Wiege hinüber und zog vorsichtig die schmutzige Decke ein Stück herunter. Sie hatte nicht die Absicht, das Baby anzufassen. Mit kleinen Kindern konnte sie schließlich auch nicht umgehen. Da lag ein hässlicher Knirps mit einem roten, verzerrten Gesicht, eingewickelt in einen alten schmutzigen Flanelllappen. Sie hatte noch nie so ein hässliches Baby gesehen. Doch plötzlich bekam sie Mitleid mit diesem verlassenen Würmchen, das, von irgendwoher, in so eine ungewisse Welt gekommen war. »Was soll jetzt aus dem Baby werden?«, fragte Rilla. »Werweiß«, sagte Mrs Conover. »Min hat sich deswegen große Sorgen gemacht, bevor sie starb. Dauernd hat sie gesagt: >Oh, was soll aus meinem armen Baby werden«, bis mir’s langsam auf die Nerven ging. Ich werd mich jedenfalls nicht damit rumschlagen, das kann ich dir sagen. Ich hab schon den Jungen von meiner Schwester großgezogen, und dann, als er alt genug war, ist er einfach abgehauen und kümmert sich kein bisschen mehr um mich, dieser undankbare Balg. Ich hab zu Min gesagt, dass der Kleine wohl in ein Waisenhaus muss, bis Jim wiederkommt oder auch nicht. Und stell dir vor, das hat ihr überhaupt nicht gepasst. Aber was soll’s!«
»Aber wer kümmert sich so lange um das Baby, bis es ins Waisenhaus kommt?«, wollte Rilla wissen. Sie machte sich Gedanken um das Schicksal des Kleinen.
»Da muss ich wohl dran glauben«, knurrte Mrs Conover. Sie legte ihre Pfeife beiseite und nahm einen kräftigen Zug aus einer schwarzen Flasche, die auf einem Regal stand. »Ich glaub sowieso nicht, dass das Kind lange lebt. Es ist ein schwaches Ding. Min hat auch keinen Schwung gehabt und so ist es bei dem auch. Dann fällt es wenigstens keinem auf die Nerven, Gott sei Dank!«
Rilla zog die Decke ein wenig tiefer.
»Das Baby hat ja gar nichts an!«, rief sie erschrocken.
»Wer hätte ihm denn was anziehen sollen, frage ich mich«, sagte Mrs Conover. »Ich hatte doch wohl keine Zeit dazu. Musste mich doch ständig um Min kümmern. Außerdem hab ich dir ja gesagt, dass ich nichts von Kindern verstehe. Die alte Mrs Billy Crawford, die war da, als er geboren wurde, und hat ihn gewaschen und eingewickelt, und seitdem hatjen ab und zu nach ihm gesehen. Dem ist warm genug bei dem Wetter.«
Rilla sagte nichts, sondern blickte stumm auf das weinende Baby. Mit solchen Tragödien war sie bisher noch nie in Berührung gekommen, und das hier traf sie zutiefst. Der Gedanke, dass die arme Mutter jetzt ganz allein ins Jenseits ging und um ihr Baby
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