Zum ersten Mal verliebt
erstaunlich ruhig, vielleicht, weil sein armer kleiner Magen endlich einmal etwas Richtiges zu essen bekommen hatte. Es schlief fast die ganze Nacht, im Gegensatz zu Rilla. Sie traute sich nicht zu schlafen, aus Angst, es könnte etwas mit dem Baby passieren. Sie bereitete seine Dreiuhrmahlzeit zu, fest entschlossen, Susan nicht zu rufen. War das womöglich alles ein Traum? War das wirklich sie, Rilla Blythe, die sich da in diese missliche Lage gebracht hatte? Es war ihr egal, ob die Deutschen vor Paris waren, es war ihr egal, ob sie gar schon in Paris waren, wenn nur das Baby nicht schrie oder sich verschluckte oder erstickte oder Krämpfe bekam. Babys bekamen doch Krämpfe, oder? Oh, wie konnte sie nur vergessen, Susan zu fragen, was sie bei Krämpfen tun musste! Und Vater! Er war immer so bedacht auf Mutters und Susans Gesundheit. Und was war mit ihrer Gesundheit? Ja, glaubte er denn, sie könnte weiterleben, ohne jemals zu schlafen? Aber klein beigeben kam nicht in Frage. Sie doch nicht! Sie würde für dieses abscheuliche kleine Biest sorgen, und wenn sie selbst dabei draufging! Sie würde sich ein Buch über Babypflege besorgen und alles ganz allein machen! Sie würde niemals Vater um Rat fragen. Und auch nicht Mutter belästigen. Und sie würde sich nur im äußersten Notfall dazu herablassen, sich an Susan zu wenden. Die würden schon sehen!
Zwei Tage später kehrte Anne abends zurück. Sie war natürlich wie vom Donner gerührt, als Susan ihr auf die Frage, wo Rilla sei, zur Antwort gab: »Die ist oben, liebe Frau Doktor, und bringt gerade ihr Baby ins Bett.«
Rillas Entscheidung
Jeder gewöhnt sich irgendwann an neue Umstände und nimmt sie wie selbstverständlich an. Eine Woche später jedenfalls war es, als wäre das Anderson-Baby immer schon in Ingleside gewesen. Es gehörte einfach zum täglichen Leben dazu. Nach den ersten drei aufregenden Nächten konnte Rilla wieder schlafen und wachte automatisch auf, wenn es Zeit war, ihren Schützling zu füttern. Sie badete, fütterte und zog ihn so geschickt an, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Dabei gefiel ihr weder ihr Job noch das Baby. Sie fasste es immer noch so vorsichtig an, als hätte sie eine kleine, zerbrechliche Eidechse vor sich. Aber sie machte ihre Arbeit sehr gewissenhaft, und es gab in ganz Gien St. Mary kein Baby, das so gut versorgt wurde wie dieses. Sie ging sogar dazu über, es täglich zu wiegen und das Gewicht in ihr Tagebuch einzutragen. Aber manchmal fragte sie sich doch, wieso das Schicksal es so schlecht mit ihr meinen und sie zu den Andersons hinunterführen musste. Shirley, Nan und Di neckten sie zum Glück nicht so sehr, wie sie erst befürchtet hatte. Sie konnten es wohl alle kaum fassen, dass Rilla ein Baby adoptiert hatte. Vielleicht hatte ja ihr Vater sie insgeheim damit beauftragt. Walter hatte sich noch nie über Rilla lustig gemacht. Eines Tages sagte er ihr, wie sehr er sie bewunderte.
»Ich finde, du bist noch mutiger als Jem, dass du dir dieses Kind aufgebürdet hast, Rilla-meine-Rilia. Ich wünschte, ich hätte nur halb so viel Mut wie du«, sagte er kleinlaut.
Rilla war sehr stolz auf Walters anerkennende Worte. Aber am Abend vertraute sie ihrem Tagebuch ihre geheimen Sorgen und Ängste an.
»Wenn ich das Baby wenigstens ein bisschen mögen würde. Dann wäre alles so viel einfacher. Aber ich mag es einfach nicht. Dabei habe ich gehört, dass man ein Baby lieb gewinnt, sobald man sich darum kümmert. Aber bei mir ist das nicht so: Ich mag es eben nicht. Wenn es nur nicht so lästig wäre! Nichts kann man tun, ohne dass es einen stört. Es ist wie eine Fessel. Ausgerechnet jetzt, wo ich mit dem Roten Kreuz anfangen wollte. Und gestern Abend konnte ich nicht auf Alice Clows Party gehen, obwohl ich alles darum gegeben hätte. Vater hat immerhin ein Einsehen und gibt mir schon mal abends ein oder zwei Stunden frei, wenn es nötig ist. Aber ich hab gleich gewusst, dass er mir nicht erlaubt, die halbe Nacht wegzubleiben und Susan oder Mutter das Baby zu überlassen. Ich glaube, das war auch gut so, denn prompt hat es Bauchkrämpfe oder so was gekriegt, und das war so um eins. Es hat weder gestrampelt noch sich steif gemacht, daher wusste ich aus meinem Buch, dass es nicht vor Wut schreit. Und es hatte auch keinen Hunger und es steckten auch keine Nadeln in seinem Bett. Es schrie, bis es ganz schwarz im Gesicht wurde. Ich stand auf, habe Wasser heiß gemacht und ihm die Wärmflasche auf den Bauch gelegt.
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