Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zum Nachtisch wilde Früchte

Zum Nachtisch wilde Früchte

Titel: Zum Nachtisch wilde Früchte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
den Oberarzt an. »Ich glaube, es geht wieder los«, meldete sie. »Er schreit schon wieder.«
    Boltenstern drückte Schreibert in die Kissen zurück. Die Gefahr, daß Schreibert in dieser seelischen Verfassung alles verriet, war akut. Hier half keine Drohung mehr, hier verschloß der Schock, der Mörder Erlangers zu sein, nicht mehr seinen Mund … hier half nur die Kraft der Überzeugung, die Argumentation der Hilfe.
    »Du redest dir da einen Unsinn ein, Hermann«, sagte er eindringlich, »der schon pathologisch ist! Ein paar Narben im Gesicht … Mensch, als Student der schlagenden Verbindungen hättest du dich direkt danach gedrängt, ein paar Durchzieher im Gesicht zu haben! Kein deutscher Geist ohne Narbe über die Backe. Zwei Mensurnarben sind ein besserer Paß als ein dickes Bankkonto. Wer in der deutschen Gesellschaft mitsprechen will, muß eine zerschlagene Fresse haben, Hermann, du kennst doch den Witz: Sehen da zwei mit Narben übersäte Akademiker einen dritten, der mit einem glatten Gesicht herumläuft. Sagt der eine zum anderen: ›Sieh dir den an. Glatt wie ein Kinderpopo. Ist wohl schräg, der Junge!‹ – Nun lach doch schon, Hermann!«
    Schreibert starrte Boltenstern aus seinen von Krusten umgebenen Augen an. Auch die Augenbrauen waren weg. Es sah aus, als habe man die Augen willkürlich in diese zerklüftete Fläche gebohrt.
    »Hast du einen Spiegel bei dir?« fragte er leise.
    »Nein, Hermann.«
    »Warum lügst du, Alf? Ich weiß, du hast immer einen Taschenspiegel bei dir. In der linken Rocktasche ist er. Gib mir den Spiegel!«
    »Ich habe mit dem Chefarzt gesprochen«, plauderte Boltenstern tapfer weiter. »In vier Wochen kannst du entlassen werden. Dann fahren wir beide zwei Wochen in die bayerischen Berge. Würzige Bergluft, Almwiesen, Höhensonne, süße Sennerinnen … und im August geht's dann nach Nürnberg zum Kameradentreffen. Eine Mordsgaudi soll es werden, sagt Konrad. Fast 2.000 Kameraden haben sich schon angemeldet, ein richtiges Volksfest mit Karussells, Schießbuden, Riesenrad und Achterbahn wird aufgebaut, der alte General v. Trettenheim wird eine Rede halten, vier Traditionsfahnen werden geweiht …«
    »Den Spiegel …«, sagte Schreibert gefährlich sanft.
    »Im Winter haben wir dann Zeit genug, an deine Verschönerung zu denken! Und wenn wir später zusammen Spazierengehen, werden uns die Mädels nachsehen und denken: Donnerwetter, hat der alte Boltenstern einen netten Sohn! Den hat er uns ja bisher vorenthalten.«
    »Gib den Spiegel her!« schrie Schreibert auf.
    Boltenstern zögerte noch einmal, dann zuckte er mit den Schultern, griff in die linke Rocktasche und gab Schreibert den kleinen, runden, in Leder gefaßten Spiegel.
    Lange starrte sich Schreibert an. Er tobte nicht mehr, er hieb nicht mehr in wilder Verzweiflung um sich … wie versteinert lehnte er in den Kissen, sah sich – oder das, was er noch war – stumm an, und der Anblick brannte sich in sein Hirn ein wie ein unverwischbares Brandzeichen.
    Auf dem Löffelrücken hatte er sich nur schemenhaft gesehen, verwischt, verzerrt, aber es hatte genügt, um ihm die Wahrheit zu zeigen. Nun war die volle Wahrheit vor ihm, brutal scharf in dem geschliffenen Spiegelglas … jede Schrunde, jede Narbe, jedes wilde Fleisch, das sich gebildet hatte, jede Höhlung, jedes Loch in seinem Gesicht. So haben die mittelalterlichen Maler nicht einmal den Teufel hingestellt, dachte er. So schrecklich war ihre Fantasie nicht, wie es die Wirklichkeit schaffen kann.
    »Hermann«, sagte Boltenstern leise und nahm ihm behutsam den Spiegel aus den verkrallten Fingern. »Es sieht nur so wüst aus, weil es noch frisch ist, noch nicht völlig ausgeheilt –«
    »Dein verdammtes LSD!« Schreibert warf den Kopf zurück und starrte an die Decke. »Ich bin erledigt! Durch dich erledigt … durch deine Teufelsdroge …«
    Der kritische Punkt war erreicht. Die wichtigsten Minuten im Leben Boltensterns hatten begonnen. Schreibert gab auf, er resignierte, er beugte sich seinem grauenhaften Schicksal … und in dieser Verfassung war er bereit, aller Welt zu verkünden, wer ihn dazu gebracht hatte.
    »Ich habe diese Wirkung auch nicht gewußt, Hermann«, sagte Boltenstern leise. »Ihr habt alle auf dieses LSD reagiert, als wäret ihr unheilbar Verrückte. Wer konnte das denn wissen?«
    »Du!«
    »Ich habe es in Paris einmal gesehen. Unter den Seine-Brücken.«
    Schreibert schloß die Augen. Die beiden sinnlosen Löcher in der Mondlandschaft

Weitere Kostenlose Bücher