Zum Tee in Kaschmir
schlank und besaà eine königliche Haltung. Die Jüngere, Dil-Ara, hatte Augen, so groà wie Untertassen und einen wesentlich robusteren Körperbau als Dil-Nashin. Sie hatte sich entschieden, Trainerin bei den Pfadfinderinnen zu werden. Sie war sehr lebhaft und auch sehr sportlich. Sie nahm mich, ohne dass meine GroÃmutter etwas davon wusste, heimlich mit auf die Dachterrasse, die wir Kinder eigentlich nicht betreten durften. Dort erklärte sie mir dann mit umwerfender Nonchalance, wie man sich an einem starken Seil in den Hof hinunterlassen konnte, wenn man an den richtigen Stellen Knoten hineingeknüpft hatte.
Meine jugendlichen Tanten, die mir im Grunde mehr wie amüsante ältere Schwestern vorkamen, faszinierten mich sehr, und ich saà stundenlang an ihren Frisierkommoden und hantierte mit den Puderdosen aus Porzellan, auf denen weiche Quasten lagen. Manchmal stöberte ich auch in ihren mit Glastüren versehenen Bücherschränken herum. Und dennoch: Es war die Küche meiner GroÃmutter, die den gröÃten Reiz auf mich ausübte. Meine GroÃmutter saà in diesem langgestreckten Raum, der durch den Schein der Herdfeuer fast wie ein Filmstudio ausgeleuchtet wurde, auf einem Schemel aus geflochtenen Binsen und kochte. Neben ihr stand ihre Küchenhilfe, die Fleisch hackte, Gemüse klein schnitt oder in einem groÃen schwarzen Steinmörser verschiedene Gewürze malte und ihr diese Zutaten dann und wann anreichte. Meine GroÃmutter sah sich die Platten mit geschnittenem Fleisch und Gemüse bedächtig und sehr genau an. Wenn ich in die Küche ging, bat mich meine GroÃmutter stets, auf einem Schemel ihr gegenüber Platz zu nehmen. Sie behandelte mich dann immer wie einen bevorzugten Gast und gab mir kleine Häppchen in den verschiedensten Stadien der Zubereitung zu kosten, stets mit der Mahnung verbunden, mein hübsches Kleid nicht zu bekleckern.
Ich war auch der Liebling meines Onkels Zahir, eines groà gewachsenen, gut aussehenden Mannes mit welligem, kastanienbraunem Haar. Er zog mich meinen Geschwistern vor und redete mit mir, als wäre ich seinesgleichen. Ãber seinen Wolljacken trug er stets lange, dicke Schals. AuÃerdem hatte er ganz ausgezeichnete Manieren. Wenn er längere Zeit auÃer Haus war, besuchte er, so hieà es jedenfalls, meistens das hiesige Kino. Er las unglaublich viel, und sein Bett war stets von etlichen Stapeln Bücher, Zeitschriften und Zeitungen umgeben. Als meine GroÃmutter über das Schlafzimmer meines Onkels sprach, das niemand aufräumen durfte, vernahm ich zum ersten Mal einen müden, resignierten Unterton in ihrer Stimme. Mein Onkel arbeitete bei einem politisch orientierten Radiosender, der Voice of Kashmir , in dem die Kaschmirer in Pakistan nicht müde wurden, ihre Solidarität mit jenen zu bekunden, die sich entschieden hatten, in Indien zu bleiben.
Eines Tages hielt mir mein Onkel einen faszinierenden Vortrag über die perfekten Knöchel des amerikanischen Filmstars Marilyn Monroe und über die Werke des britischen Schriftstellers D. H. Lawrence. Gerade als er sagte, dass ich, wenn ich ein paar Jahre älter sei, unbedingt Lawrences Romane lesen sollte, um die Geheimnisse der Liebe zu entdecken, wurde ich durch laute Geräusche im Hof aufgeschreckt. Ich entschuldigte mich hastig bei ihm und rannte dann die Treppe hinunter.
Unten angekommen sah ich einen groÃen Mann neben meiner GroÃmutter im Hof sitzen, die gerade merkwürdig aussehende beige Röhren aus einem Strohkorb zog. Dann legte sie sie geradezu ehrfürchtig auf eine Servierplatte aus Metall. SchlieÃlich nahm sie noch einen Strauà kleiner grüner Blätter aus dem Korb. Ich sah, wie sie das SträuÃchen vor ihr Gesicht hielt und dann tief einatmete. Es war Bockshornklee, ein Kraut, das sowohl Fleisch- als auch Gemüsegerichten einen scharfen, lang anhaltenden Duft verleiht.
Meine GroÃmutter winkte mich zu sich und teilte mir mit, dass es heute Lotoswurzeln mit Bockshornklee zum Mittagessen geben würde. Ob ich schon einmal eine Lotosblume gesehen hätte? Als ich den Kopf schüttelte, sah ich, wie ein Schatten über ihr Gesicht zog. In diesem neuen Paradies, sagte sie, und meinte damit unsere neue Heimat Pakistan, müssen wir an besonderen Orten suchen, um uns selbst zu finden. Dann erzählte sie mir, dass im Dal-See im kaschmirischen Ort Srinagar, nur ein kleines Stück
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