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Zum Tee in Kaschmir

Titel: Zum Tee in Kaschmir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nazneen Sheikh
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meiner Mutter war der Vorratsraum jedoch stets unverschlossen, da sie absolutes Vertrauen zu ihrem Personal hatte.
    Weil es mir verboten war, die Küche zu betreten, verbrachte ich viele Stunden in der Speisekammer. In diesem Raum summte ein großer amerikanischer Kühlschrank leise vor sich hin. Schränke und Regale waren mit Töpferwaren, unterschiedlichsten Lebensmittelbehältern und großen Thermoskannen, die eine weite Öffnung hatten und innen mit silbrigem Glas ausgekleidet waren, gefüllt. An einer Wand stand ein langer Küchentresen, auf dem die in der Küche vorbereiteten Speisen auf Tellern angerichtet wurden.
    Ich fand die Speisekammer unglaublich faszinierend, außerdem hatte sie für mich etwas von einer Kristallkugel, mit der ich in die Zukunft sehen konnte. Sah ich bei einem meiner häufigen Besuche, dass dort Dessertschalen bereitstanden, wusste ich, dass wir zum Abendessen Gäste hätten. Verstreute Brotkrümel hingegen ließen darauf schließen, dass es Sandwiches zum Tee geben würde. Kleine mit Minz-Chutney gefüllte Schälchen aus geschliffenem Glas bedeuteten, dass schon bald Schmalzgebäck aus Kichererbsenmehl serviert würde. Wenn ich in Erfahrung gebracht hatte, was in der Speisekammer stand, rannte ich immer sofort los und teilte diese Neuigkeiten meinem unverbesserlichen Bruder Shahid mit, dem es einmal tatsächlich gelang, ein Dessert so geschickt auszuhöhlen, dass es erst in sich zusammenfiel, als meine Mutter es anschnitt.
    Mein Bruder und ich waren sehr erfolgreich, wenn es darum ging, in der Speisekammer unglaubliche Missetaten zu begehen. Obwohl er ein Jahr älter war als ich, stellte ich für ihn die perfekte Komplizin dar, denn ich konnte schneller rennen als er und brach auch nicht gleich in Tränen aus, wenn ich mir einmal ein Knie aufschlug. Ein kühner mitternächtlicher Einbruch in die Speisekammer fand einmal kurz vor jenem Fest statt, das die dreißigtägige Fastenzeit des Ramadan beenden sollte. Am Abend vor dem Fest, nachdem der zunehmende Mond gesichtet worden war, bereitete meine Mutter persönlich viele verschiedene Desserts zu. Mit gehackten Nüssen und mit essbarer Folie dekorierte Süßspeisen standen nun also auf den langen Regalborden in der Vorratskammer oder im Kühlschrank, um über Nacht abzukühlen. Es waren unendlich viele Portionen, da wir an diesem Festtag viele Gäste erwarteten.
    Nachdem fast alle im Haushalt schliefen, traf ich mich mit meinem Bruder vor seinem Schlafzimmer, das ein Stück von meinem entfernt war. Im Pyjama und barfuß schlichen wir durch das dunkle Haus zur Speisekammer, wo wir zwei Dessertschüsseln vom Regal nahmen und dann damit in sein Zimmer zurückrannten. Auf seinem Bett sitzend stopften wir uns mit Pudding voll, der mit dem Duft von Rosen und Kardamom durchtränkt war und von dem jeder Löffel besser denn je schmeckte, weil dem Ganzen etwas Verbotenes anhaftete. Als Kinder genossen wir unsere Desserts am liebsten heimlich, denn wir konnten noch nicht warten und einfach nur unsere Vorfreude auskosten.
    Meine Mutter hatte auch ein sehr stark ausgeprägtes soziales Gewissen. Ein Festtag begann für uns niemals, bevor nicht auch die Bedürftigen etwas zu Essen bekommen hatten. An besonderen Festtagen brachte sie Körbe voller Essen zur hiesigen Moschee, wo sie die Gaben dann mit eigenen Händen verteilte. Jedes Nahrungspäckchen war dabei in Drachenpapier eingewickelt und mit einer bunten Schnur verschlossen. Drachenpapier ist ein dünnes, raschelndes Material, so leicht wie Seidenpapier. Es war in kräftigen Grün-, Blau- und Rottönen erhältlich. Das Papier färbte in der Hitze sowohl die Speisen als auch die Hände meiner Mutter. Gemäß ihres Mogultemperamentes schien ihr die Ästhetik jedoch wichtiger zu sein als die Verwendung normaler Lebensmittelfarben.

    Meine Mutter sah soziale Ungerechtigkeiten stets als persönliche Herausforderung an. So war es auch nicht überraschend, dass ihr politisches Gewissen ebenfalls sehr ausgeprägt war. Meine Eltern hatten sich aktiv an der nationalistisch orientierten Politik beteiligt, die schließlich 1947 zur Gründung Pakistans führte. Als mein Vater wegen seiner Loyalität zu Mohammad Ali Jinnah, dem Gründer Pakistans, inhaftiert wurde, hielt meine Mutter in Srinagar die Stellung, kümmerte sich um ihre damals noch kleinen Kinder, während

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