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Zum Tee in Kaschmir

Titel: Zum Tee in Kaschmir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nazneen Sheikh
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Milch und Zucker gedämpft worden war, wie die feinste Delikatesse schmecken. Oft hatte ich mir überlegt, einfach eine Krankheit vorzutäuschen, nur damit sie mich fütterte. Das sensorische Vergnügen, an ihren Fingerspitzen zu saugen, mag mich sehr wohl schon in frühem Kindesalter für Zärtlichkeiten sensibilisiert haben, die im Erwachsenenalter dann zu erotischen Spielen führen. Mit dieser Art mütterlicher Intimität folgte sie ihren Mogulvorfahren, die stets mit den Händen aßen. Meine Mutter, die sowohl im Osten als auch im Westen erzogen worden war, verbot uns Kindern zwar grundsätzlich, bei Tisch mit den Fingern zu essen, gelegentlich entschied sie sich jedoch dafür, ihr eigenes Verbot zu umgehen.
    Meine Mutter besaß die geradezu unheimliche Fähigkeit, meine Gedanken zu lesen. Es war für sie stets ein Leichtes, herauszufinden, welches ihrer Kinder ungehorsam gewesen war. An Schultagen fand man mich morgens meistens im Speisezimmer, wo ich missmutig mein Frühstück begutachtete. Mit geradezu Übelkeit erregender Regelmäßigkeit warteten dort auf mich nämlich ein gekochtes Ei, obwohl ich gekochte Eier hasste, und ein großes Glas warmer Büffelmilch, auf der eine dicke Rahmschicht schwamm. Also beugte ich mich aus dem Fenster, warf das Ei in den darunterliegenden Dschungel aus Zinnien und goss die Milch gleich hinterher. Dann aß ich mit großem Appetit meinen Toast mit Butter und Honig und machte mich anschließend auf den Weg in die Schule.
    Meinem Vater fielen auf seinen Morgenspaziergängen oft helle Eierschalen im Gebüsch auf, die er jedoch nur mit seinem Fuß etwas tiefer ins Unterholz schob. Eines Tages begleitete ihn meine Mutter auf seinem Spaziergang. Am nächsten Morgen wurde ich in ihr Schlafzimmer gerufen. Neben ihrem Bett stand ein kleiner Tisch, und auf diesem wartete mein Frühstück. Ein gekochtes Ei, das Glas Milch und der Toast. Meine Mutter sagte mir, dass ich jetzt die Wahl hätte: Entweder ich aß das ganze Frühstück, oder ich durfte nicht zur Schule gehen. Dann hielt sie mir einen Vortrag über hungernde Kinder und meine gedankenlose Haltung. Obwohl ich ihren mit Rosen aromatisierten und mit Pistazien bestreuten Reismehlpudding viel lieber gegessen hätte, würgte ich das gekochte Ei hinunter und spülte dann mit großen Schlucken Milch nach. Für meine Mutter war dies ein Sieg, der schon von vornherein festgestanden hatte. Für mich bestand die Lektion darin, dass das, was man aß, zur Gelegenheit passen musste.

    Speis und Trank waren oft gewählte Themen in den illustrierten Handschriften der Moguln des fünfzehnten Jahrhunderts. In den neunziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts schenkten königliche Kunsthandwerker dem Mogulherrscher Akbar eine illustrierte Handschrift namens Chingiznama , die über 190 Illustrationen enthält und aus der Turksprache ins Persische übertragen worden ist. Eine der politisch wohl bedeutendsten Illustrationen stellt den Mongolenführer Dschingis Khan dar, wie er sein Reich zwischen seinen Söhnen aufteilt. Unzählige Servierplatten mit Speisen und Getränken umgeben den kaiserlichen Baldachin. Am unteren Rand des Miniaturgemäldes trägt eine Reihe von Bediensteten mit Speisen geradezu überladene Servierplatten herbei. Trotz der einschüchternden Umstände dieses Ereignisses verleiht die Anwesenheit von Speisen und Getränken der Zusammenkunft doch einen zivilisierten Rahmen.
    Für meine Mutter war es genauso wichtig wie für ihre Vorfahren, zu einem Essen die passende Atmosphäre zu schaffen. Auch ihre Picknicks kann man durchaus als höfisch beschreiben. Wir pflegten oft kleine Ausflüge in die Berge Nordpakistans zu machen, wo wir ein Sommerhaus hatten. Begleitet wurden wir dabei von unserem mittlerweile recht betagten Kindermädchen und mindestens einem Mitglied des Hauspersonals. Wir nahmen zusammengerollte Teppiche, Grammofone, Schallplatten mit indischen Liebesliedern, Kohlebecken, emaillierte Zinnteller, Weidenkörbe und Thermoskannen mit. Manchmal auch Badmintonschläger und einen Tenniquoit-Gummiring, den mein Bruder jedoch mehr als Angriffswaffe denn als einfaches Gerät zum Werfen und Fangen benutzte.
    Was meine Mutter inszenierte, diente einzig und allein dazu, uns auf alle nur erdenklichen Arten Freude zu machen. Bei ihren Picknicks zeigte sich, wie wichtig es ihr war, eine

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