Zungenkuesse mit Hyaenen
Doppelselbstmord nahe, was der Geschichte die kriminalistische Dimension nahm und ihr eine romantische gab, da sank Müllers Kopf herunter, und er verstummte. Hatte er eben gelogen? War er doch ein Romeo?Taugte er für einen romantischen Liebestod, und falls ja, warum war er dann noch am Leben? Alles war möglich: dass er simulierte, dass er log, dass er die Wahrheit sprach. Nun aber war kein Wort mehr aus ihm herauszukriegen, und eine kleine Traube seiner Getreuen, Miss Marple, Barbie-Oma, Gürkchen und Teuben, stellte sich um ihn herum wie eine Fußballmannschaft beim Motivationsritual. Ich jedenfalls traute Müller alles zu: den Großkopferten, den Simulanten, den Scharlatan. Er log, taktierte, lavierte – warum sollte er nicht glänzend vortäuschen? Am Ende konnte er vielleicht wirklich gehen, genau wie Gritli?
»Kann ich mich wieder umziehen?«, fragte eine vertraute Stimme.
Ich drehte mich um, und mein Herz stockte. Erneut fiel ich auf die Verkleidung herein, deren Initiator ich war.
»Nein«, sagte ich, nahm Gritlis Hände und küsste sie. »Bitte nicht!«
Sie sah mich erstaunt an. »O.K.!«
David hielt etwas hoch und rief: »Na, wirkt wohl, der Haschkeks?«
Hier klingelte es, und der Abend, der zum Showdown meiner Geschichte, zum Durchbruch meiner Reporterkarriere werden sollte, geriet zum Alptraum. Er entglitt meiner Kontrolle. Ein Mann im Trenchcoat und zwei in Uniform standen vor der Tür. Gritli entfuhr ein Schrei, einer der Matrosen sprang mit einem Satz über meine Brüstung auf Davids Balkon, Barbie-Oma schloss sich flugs auf dem Klo ein, und Herr Puvogel stand reglos mit dem Gesicht zur Wand, als zähle er imaginäre Fliegen. Ich selbst war ganz ruhig. Was sollte schon sein? Ruhestörender Lärm, Verwicklungen, die mit David oder den Jungen zu tun hatten, wer weiß, die Haschkekse, die Thanatos-Organisation. Mit nichts jedenfalls rechnete ich weniger als mit dem, was jetzt kam.
»Guten Abend!«
Ich sah in das Gesicht des Oberinspektors Kramm von der Mordkommission.
»Michael Rothe?«, sagte Kramm. »Sie sind verhaftet.«
Mein vernebelter Geist hörte die Worte, erfasste aber ihren Sinn nicht. »Warum?«, brachte ich schließlich mühsam hervor.
»Wegen Mordverdachts.«
»An wem?«
»An Béla Schlosser.«
»Dem Cellisten? Ich kannte den gar nicht.«
Kramm wedelte mit dem Foto, das der Mittagskurier von Big Bens Party veröffentlicht hatte. Ich trug Béla Schlossers roten Samtfrack und übergab ihm, gut sichtbar, mein blaues Augentropfenfläschchen.
»Ich habe ihm mal eins geschenkt, na und?«
»Es war Sekundenkleber drin.«
»Es war ...?«
Kramm legte Handschellen um meine Handgelenke, ließ sie zuschnappen und belehrte mich über meine Rechte. Das war sicher alles nur ein Irrtum. Ein bedauerlicher Irrtum. Oder war ich zu weit gegangen? Nahm mich Mutter von ferne in Schutzhaft, ließ mich die Thanatos-Organisation gerade verschwinden? Big Ben! Hatte nicht Big Ben vorhin zu seinem Smartphone gegriffen? Hatte nicht Müller mit Gürkchen getuschelt, war Gürkchen nicht kurz verschwunden? Ich sah David, der den Finger auf den Mund legte, und erinnerte mich an alles, was er mir über Festnahme und Untersuchungshaft erzählt hatte.
»Ich sage kein Wort«, sagte ich mit vom Haschisch schwerer Zunge, »nicht ohne meinen Anwalt.«
TEMPELPRIESTERINNEN
Die Urnenbeisetzung der Roten Müllerin wurde vom Lokalsender Rizz TV live übertragen. Ich hatte auf Nachfrage einen Fernseher bekommen. Das hochbetagte Gerät empfing über Zimmerantenne den Anstaltssender und Rizz TV. Da ich mich in der Zelle sehr einsam fühlte und keinen Besuch bekam, lief der Fernseher praktisch jeden Tag. Gleich am Tag nach meiner Verhaftung hatte ich – der einzige Anruf, den man mir erlaubt hatte – auf Mutters Mailbox gesprochen: »Liebe Mutter, du wirst dich sicher wundern, warum ich so lange nicht angerufen habe ...« Das war mehr als eine Woche her. Mutter hatte sich nicht zurückgemeldet.
Die Beisetzung war ein großes gesellschaftliches Ereignis, ähnlich dem Rizzer Opernball oder einem EM-Fußballspiel mit Public Viewing. Vielleicht war dies sogar noch größer. Der rasche Wechsel von Sonne und Nieselregen schien niemanden zu stören. Es war die Crème de la Crème, die sich »im engsten Kreise« um das kleine Erdloch versammelt hatte. Alle stürzten auf Müller zu und kondolierten ihm, als sei er der Ehemann, der Bruder, der Vater der Toten. Müller begrüßte jeden von ihnen ausgesucht höflich,
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