Zurück ans Meer
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trotz all der vielen Wollschichten. Es ist Zeit, umhüllt zu werden, nicht nur von Kleidung, sondern auch von Träumen, die
dann Zeit für den Winterschlaf haben, bevor sie im Frühling wieder erwachen. Daran denke ich, als ich zum Salt Water Grill
fahre, um mit Ro und Susan meinen Geburtstag zu feiern. Beim Losfahren verspürte ich leichte Schuldgefühle, da ich für ihre
Geburtstage nichts Besonderes geplant hatte. Doch das schlechte Gewissen verflüchtigte sich rasch. Seit meiner Strandwanderung
nach Monomoy hat sich meine Einstellung verändert. Ich bin entschlossen, keine Rückschritte zu machen, und habe gelernt, die
Warnzeichen zu erkennen, die jedes Mal aufleuchten, wenn ich auch nur daran denke, in alte Gewohnheiten zu verfallen. Zur
Verwunderung aller ist es mir gelungen, das Wort Nein fast so oft auszusprechen wie das automatische Ja. Ich habe zahllose
persönliche und berufliche Absagen erteilt und es geschafft, mich von ein paar Auftritten und unergiebigen Verpflichtungen
zu befreien. Ich unternehme sehr viel weniger mit meiner Mutter, koche nicht mehr jeden Abend und habe einiges an Hausarbeit
abgegeben.
Der Schnee fällt seit mehreren Stunden unentwegt, daher fahre ich langsam. Wir hatten überlegt, das Treffen ausfallen zu lassen,
aber sowohl Susan als auch Ro hatten unsere letzten Verabredungen platzen lassen. Ausnahmsweise bin ichmal nicht diejenige mit dem vollen Terminkalender! Ro ist seit der vorzeitigen Ankunft ihres vierten Enkelkindes ständig überfordert,
und Susan ist vollauf mit ihrem neuen griechischen Liebhaber beschäftigt. Hin und wieder muss ich leise lachen, wenn ich daran
denke, wie sie an mir herumgenörgelt haben, um mich aus meinen Familienverflechtungen loszueisen.
Ich bin gerade in die Monument Road eingebogen und komme an der Heiliggeistkapelle vorbei – eine ganz besondere Kirche, die
ich von Zeit zu Zeit aufsuche, weil ihre Schlichtheit Trost und Inspiration bietet. Als die alte Kapelle renoviert werden
musste, trug jedes Mitglied der Gemeinde etwas bei – ein Holzschnitzer verzierte die Kirchenbänke, ein Glasbläser schuf die
Buntglasfenster, jemand anderer bestickte die Gebetskissen. Durch ihre gemeinsame Anstrengung ist der Ort – so scheint mir
– mit mehr Spiritualität erfüllt als die meisten anderen Kirchen, deren Gottesdienst ich besucht habe. In letzter Zeit fühle
ich mich zur Spiritualität hingezogen, beginne zu spüren, dass die zweite Lebenshälfte mehr nach innen als nach außen gerichtet
sein sollte – eine Zeit, in der man stärker mit Fühlen als mit Denken beschäftigt ist. Diese neuen Gedanken haben mir zwei
römisch-katholische Nonnen bestätigt, die sich veranlasst fühlten, mir unaufgefordert ihre Meinungen zu dem Thema mitzuteilen.
Die erste, Schwester Lita, hat das Gefühl, mich durch und durch zu kennen, da sie all meine Bücher gelesen hat. Sie hat mir
vor Kurzem E-Mails geschickt und mich angeregt, mit dem Schreiben fortzufahren. »Das Thema meines diesjährigen Weihnachtsbriefes war Ehrfurcht«,
erklärte sie in ihrer letzten E-Mail , »Dinge, die mich mit Ehrfurcht erfüllen. Als ich Ihnen das erste Mal schrieb, hatte ich das Gefühl, einen Gedanken in den
Raum zu werfen, den Sie vielleicht aufgreifen würden. Daher schüttelte ich verwundert den Kopf, als Sie tatsächlich antworteten.
Während ich auf die vielen Wolkenkratzerhier in Toronto blicke, denke ich an das Wasser, das all diese Stockwerke hinaufgepumpt wird und dann wieder hinunterfließt … alles unsichtbar … und erneut bin ich von Ehrfurcht erfüllt. Wie das Sprichwort sagt: ›Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.‹«
Die letzte Zeile blieb bei mir hängen. Ich habe so viel Zeit in der Natur verbracht und Botschaften über das Leben erhalten,
während ich die unterschiedlichsten einzigartigen oder mysteriösen Dinge betrachtete und tief in sie hineinschaute. Aber um
das Unsichtbare zu wissen und, wichtiger noch, darauf zu vertrauen, ist etwas ganz anderes. Ich spüre, dass auf diesem Gebiet
noch Arbeit vor mir liegt. Ich muss mich dem Immateriellen öffnen – Eigenschaften, Empfindungen, Intuitionen, welche die Seele
beleben und mir das Gefühl geben, wirklich lebendig zu sein.
Die andere Nonne wandte sich bei einem Frauensymposium an mich. In der Diskussion, die der Veranstaltung vorausging, teilte
sie mir mit, was sie hinsichtlich meines Lebens empfunden hatte. »Aus Ihrem ersten Buch wird
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