Zurück ins Licht (Das Kleeblatt)
müsste er sie vor dem Umfallen stützen.
Der Hausherr, dessen wahren Namen nur die wenigstens Menschen kannten (und diese Handvoll hütete sich tunlichst, ihn laut auszusprechen), hatte sich zufrieden mit der Arbeit seiner Büttel gezeigt, da die Entführung des Arztes ganz nach Plan verlaufen war. Wie in einem solchen Fall üblich, hatte der geheimnisvolle Alte zur Feier des Tages eine hübsche Extraprämie für sie springen lassen. Und dann hatten David und er wohl einen zu viel hinter die Binde gekippt. Baker konnte sich nicht mehr genau erinnern, wie viele Flaschen es im Laufe eines langen Abends geworden waren. Er wusste bloß, dass sein Schädel doppelt so breit und so schwer war wie gestern und er sofort etwas zu trinken brauchte, wollte er wieder einigermaßen klar denken.
Der Amerikaner verdrehte die Augen. „Was macht denn der?“
Mit einem Fußtritt weckte er seinen Kumpan, der laut schnarchend auf einer Pritsche im Nebenzimmer lag. Er deutete auf die Glasscheibe zu dem angrenzenden, hell erleuchteten Raum. Aber auch David Vidor glotzte, nachdem er sich mit zitternden Knien an Johnny auf die Füße gezerrt hatte, bloß mit einfältigem Gesicht. Sie grinsten sich an, zogen Grimassen und tippten sich gegenseitig an die Stirn, bis sie sich schließlich grölend auf die Schenkel klopften.
In der Nacht hatten sie die schweren Ketten, an denen die Fesseln um Angels Handgelenke hingen, von der Decke herabgelassen. Doch ihr Gefangener lag nicht vor ihnen im Dreck, wie sie es erwartet hatten. Aufrecht und stolz stand er in der Mitte des Raumes. Obwohl die Kette lang genug war, hatte er sich die Augenbinde nicht abgenommen. Er hielt die Handflächen vor seiner Brust aneinander, dann schrieben seine Arme mit weichen, fließenden Bewegungen weite Kreise, als wollten sie etwas umschließen und zu ihm führen. Lediglich das leise Rasseln der Ketten war zu hören.
Woher sollten die beiden Amerikaner wissen, dass er jahrelange Übung in Meditation besaß? Noch weniger konnten sie sich vermutlich vorstellen, dass er auf diesem Weg all seine Energien in einem Punkt konzentrieren und seinen Körper verlassen konnte. Auf diese Weise würde er empfindungslos für äußere Einflüsse, gleich welcher Art, werden.
„Ich glaube, d er Russe ist durchgeknallt“, brabbelte David, als der Marquess lautlos den Raum betrat und sich zu ihnen gesellte.
Sein Blick hing gebannt an der hoch gewachsenen, muskulösen Gestalt seines Gefangenen. Eine Spur Bewunderung blitzte in den kalten Augen des Marquess’ auf. Oh ja, er konnte wirklich stolz auf ihn sein. Schade, dass der Kleine ihm damals entwischt war und all seine Pläne zunichte gemacht hatte. Aber noch war nichts verloren. Es hatte lange gebraucht, Angel aufzuspüren, und was er jetzt vorfand, übertraf seine Erwartungen eher noch. Sie würden ein unschlagbares Team werden, wenn er sich einsichtig zeigte und auf sein Angebot einging.
„Idioten ! Von wegen Russe. Wie konnte man mir bloß solch hirnlosen Ochsen wie euch schicken? Seht zu, dass ihr ihn aufweckt!“
Es dauerte einige Sekunden, bis die Amerikaner sich bequemten , in die Zelle nebenan zu gehen. Sie rissen mit einem heftigen Ruck am anderen Ende der Kette, bis Angels Armsehnen zum Reißen gespannt waren, allerdings verriet das gleichmäßige Heben und Senken seiner Brust, dass er sich bereits in einen Zustand völliger Entspannung versetzt hatte. Baker und Vidor traten und schlugen auf ihn ein, aber Angel zeigte keinerlei Reaktion. Er konnte sich kaum an die Zeit seiner Ausbildung erinnern, dennoch zeigten die einmal gelernten Lektionen nachhaltige Wirkung. Sie waren ein unauslöschlicher Teil von ihm geworden.
Aufmerksam verfolgte der Marquess Angels Atmung und die Wirkung der Schläge. Wie es aussah, hatte sich der Junge durch jahrelanges, hartes Training eine Art Muskelintelligenz angeeignet, die jede Faser seines Körpers gezielt steuerte und ihm ermöglichte, in Situationen wie diesen genau jene Muskeln anzuspannen, die Knochen und innere Organe vor Verletzungen schützte. Nun, selbst auf diese Anforderungen an seine Foltermethoden war er vorbereitet, war ihm doch von vornherein klargewesen, dass er es bei Angel mit einem ganz besonderen Exemplar der menschlichen Gattung zu tun hatte.
Mit einem verächtlichen Knurren winkte der Marquess die Amerikaner zu sich. „Verschwindet jetzt! Ihr habt drei Tage frei.“
Dunkelheit.
Eine raue Decke aus tiefem Schwarz lastete auf ihm und erstickte jeden Laut.
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