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Zusammen Allein

Titel: Zusammen Allein Kostenlos Bücher Online Lesen
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einem rumänischen Sprichwort und machte damit klar, dass ich mehr brauchte, mehr von allem, vor allem aber Zärtlichkeit.
    Erst später begriff ich: Petre war ein Jäger, vorsichtig, kontrolliert. Kein Risiko. Er ließ sich Zeit, prüfte den Wind, musste sich ganz sicher sein, bevor er einen Pfeil abschoss.
     
     
    Weihnachten ging wie im Rausch vorbei. Die Feiertage und das kalte Wetter schweißten uns zu einer richtigen Familie zusammen. Ich weiß nicht mehr, was ich geschenkt bekam und was es zu essen gab; ich erinnere mich nur noch daran, dass das in einem Brief angekündigtePäckchen aus Deutschland nicht pünktlich ankam. Es kam auch nicht unpünktlich an. Es kam überhaupt nicht an.
    Als hätte sie es geahnt, rief meine Mutter an Heiligabend an, das erste Mal. Petre zog die Schnur lang, brachte den Apparat zu mir in die Küche, und seine Augen funkten: wichtig, wichtig.
    »Ja«, sagte ich.
    Als Petre gehen wollte, hielt ich seine Hand fest. Seine Zurückhaltung erschien mir fehl am Platz. Da die Küche der wärmste Ort war, saßen Puscha, Misch und Marina sowieso neben mir und hörten mit.
    »Bist du immer noch bei   … bei ihr?«, stellte Mamusch ihre Eingangsfrage.
    Ich lachte. »Sonst hättest du mich hier nicht erreichen können.«
    »Red nicht so. Zuerst habe ich bei der Eri angerufen.«
    »Ach, die haben jetzt Telefon?«
    »Ja, sonst hätte ich nicht gewusst, wo du steckst.«
    Wir seufzten gleichzeitig. Und wünschten uns einen schöneren Dialog. Etwas in der Form von: Ich vermisse dich. Ich will zu euch. Oder: Stell dir vor, ich bin verliebt.
    Das alles hätte ich sagen können. Damit sie antwortet: Wie schön, wie heißt er denn? Auch ich vermisse dich, schrecklich sogar. So viele Dinge hätten wir sagen können. Wir sagten nichts dergleichen. Meine Gedanken schienen wie mit Kaugummi verklebt.
    »Willst du Puscha sprechen?«
    »Nein!« Ein lautes Nein mit Ausrufezeichen. Dann die Stimme meines Vaters. Sehr fremd. Wie von einem anderen Stern.
    »Scha du   …, ha du   …?«
    Ich verstand nicht, was er sagte, und wurde unruhig. Hätte ich eine freie Hand gehabt, ich hätte wieder mit dem Nägelkauen begonnen. Im Hintergrund hörte ich, wie Mamusch rief:
    »So nimm doch die Zigarette aus dem Mund.«
    »Tata, seit wann rauchst du?«
    Er erzählte ein bisschen, er rechtfertigte sein Glück ein bisschen. Dann ein Rauschen im Hörer. Wie am Meer. Die Leitung war unterbrochen worden.
    »Ich soll euch lieb grüßen«, sagte ich zu den anderen und wischte mir eine, vielleicht auch zwei Tränen aus den Augenwinkeln.
     
     
    Über sechzig Zentimeter Schnee waren über Nacht gefallen. Die Fahrer der Räumfahrzeuge hatten verschlafen oder das Benzin verkauft oder beides. Auch die Gehwege waren nicht geräumt, das Gehen mühsam. In der Woche vor Silvester konnte man sich seine Fleischration abholen. Ein Kilo Fleisch pro Familie, hatten das Radio, der Fernseher, die Zeitung verkündet. Ein Geschenk des bestbezahlten Schusters der Welt an sein ausgehungertes Volk. Man sollte meinen, ein Anstehen wäre überflüssig. Schließlich waren die Gutscheine abgezählt. Aber die Jahre davor hatten gezeigt, dass das Fleisch nie reichte. Ein Kilo konnte man so oder so abmessen. Da an diesem Tag schulfrei war, sollte ich die erste Schicht übernehmen. Doch allein für den Fußweg, es fuhr kein einziger Trolleybus, brauchte ich fast eine Stunde. Immer noch schmerzte mein Bein, aber die Vorfreude auf den Festbraten ließ mich lächeln. Vor derMetzgerei hatte sich eine lange Schlange gebildet. Wie Kaiserpinguine standen die Wartenden dicht an dicht. Bald war ich ein Teil von ihnen. In meinem Nacken spürte ich den Atem eines großen Mannes. Er rauchte unablässig. Zwei Stunden lang standen wir so. Er rauchend, ich hustend. Kaum jemand sprach. Während ich mir die zehnte Geschichte erzählte, während wir mit winzigen Schritten vorwärtstippelten, sank ein altes Mütterchen in die Knie. Zwei Männer eilten zu ihr, redeten auf sie ein, trugen sie schließlich fort. Schon war die Reihe durcheinandergeraten. Einige versuchten, aus dem Vorfall Profit zu schlagen, und überholten. Eine Schnapsflasche fiel zu Boden. Es gab Geschrei und die wildesten Flüche. Jemand sagte, das Fleisch wäre ausgegangen. Ein anderer schlug seinen Nachbarn nieder. Blass vor Angst drückte ich mich an die Hauswand.
    »Der Preis für ein rauschendes Silvesterfest«, flüsterte der große Mann hinter mir und legte mir beschützend die Hand auf die

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