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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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für andere Menschen bedeutete. Der Unterschied liegt darin, dass Höflichkeit das entscheidende Element der frühen Formen von civilité bildete, während sie heute nicht mehr allein durch gute Manieren definiert ist. Anders als bei der kalkulierten Zurückhaltung am diplomatischen Verhandlungstisch oder als die wohlbedachten Ironien im Salon können moderne Formen der civilité gelegentliche Zornausbrüche umfassen und auf die leichte Freundlichkeit oder die oberflächliche Höflichkeit der Teamarbeit verzichten. Vor allem aber versuchten unsere Vorfahren, die höflichen Umgangsformen schon zu kodifizieren, kaum dass sie sie zu praktizieren begannen, während die Umgangsformen heute eher informellen Charakter haben. Die Menschen sind sich der Regelwerke heute eher nicht bewusst. Ob kodifiziert oder informell, das Wesen höflicher Umgangsformen liegt im Ritual. Nach außen gerichtetes Verhalten wird wiederholt und damit zu einer Gewohnheit. Die kurzfristige Orientierung zersetzt die höflichen Umgangsformen. Deshalb neigt der Finanzkapitalismus zur Unhöflichkeit. Die Mitglieder seiner Elite profitieren von dieser kurzfristigen Ausrichtung, die gewöhnlichen Beschäftigten dagegen nicht.

VI Das unkooperative Ich
    Die Psychologie des Rückzugs

    Bislang haben wir zwei Kräfte betrachtet, die Kooperation schwächen: strukturelle Ungleichheit und neue Formen der Arbeit. Beide sozialen Kräfte haben psychologische Auswirkungen. In der modernen Gesellschaft entsteht ein eigentümlicher Charaktertyp, ein Mensch, der mit anspruchsvollen, komplexen Formen sozialen Engagements nicht zurechtkommt und sich deshalb zurückzieht. Er oder sie verliert den Wunsch, mit anderen zu kooperieren. Dieser Mensch wird zu einem »unkooperativen Ich«.
    Das unkooperative Ich bewegt sich im mittleren Bereich zwischen Psyche und Gesellschaft. Eine Möglichkeit, diesen mittleren Bereich der Sozialpsychologie zu erhellen, liegt in der Unterscheidung zwischen Persönlichkeit und Charakter. Nehmen wir an, Sie sind ständig voller Angst und Furcht aufgrund überfürsorglicher Eltern oder aufgrund ständiger Zurückweisung in der Kindheit und so weiter und so fort. Als Erwachsener tragen sie diese Last in sich, was immer Sie auch tun und wohin Sie auch gehen. Dann ist das Ihre Persönlichkeit. Doch trotz all der Angst in Ihnen versetzen Sie ihre Umgebung und sich selbst in Erstaunen, wenn Sie beim Militär oder auf einer Demonstration zum Kampf gezwungen werden und sich mutig verhalten. Die Umstände lassen Sie über sich hinauswachsen, Umstände, die sie weder herbeigeführt noch gewollt haben. In diesem Fall beweisen Sie Charakter. Ihre Psyche ist in einer schwierigen Situation über sich hinausgewachsen. Das »unkooperative Ich« bezeichnet nun einen Zustand, in dem Sie angesichts solcher Herausforderungen den Rückzug antreten.

Angst

    Der größte Soziologe in der Mitte des 20. Jahrhunderts, C. Wright Mills (1916–1962), dachte just so über den Charakter. In seiner zusammen mit Hans Gerth verfassten Studie Character and Social Structure ( Person und Gesellschaft ) stellt er die These auf, dass Angst den Charakter forme. 1 Danach versuchen soziale Akteure sich sowohl an die ihnen von der Gesellschaft zugewiesenen Rollen anzupassen als auch sich davon zu distanzieren. Durch die Auseinandersetzung mit Angst aufgrund von Umständen, die sie nicht selbst herbeigeführt haben, entwickeln die Menschen innere Stärke.
    Mills’ Vorstellung basierte auf einem großen Dilemma seiner Zeit. Er betrachtete das Verhalten gewöhnlicher Deutscher in der Nazizeit und gewöhnlicher Russen unter Stalins Terrorherrschaft. Die meisten Bürger totalitärer Staaten leisteten keinen Widerstand, aber nicht alle erlagen den Regimen auch emotional. Einige wenige entwickelten Zweifel an dem ihnen aufgezwungenen Verhalten. Wie Winston Smith in George Orwells Roman 1984 verloren sie zunehmend ihre Illusionen, ohne allerdings so weit wie Winston Smith zu gehen und sich einer Gefahr auszusetzen. Nicht jeder kann ein Held sein. Dennoch sollte man das Unbehagen nicht unterschätzen. Die Angst angesichts des eigenen Verhaltens lässt die Menschen immerhin an der Aussicht auf Veränderung festhalten. Mills benutzte diese Zusammenhänge, um seine Version der im Soziologenjargon so genannten »Rollenangst« zu entwickeln, eines Zustands, in dem die Menschen die ihnen zugewiesenen Rollen zwar spielen, aber an ihnen zweifeln. Mit dieser Vorstellung stand Mills in deutlichem

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