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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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verkauften, Abteilungen schlossen oder sich einfach nur selbst retteten. Die mangelnde Führung war für meine Informanten keine Überraschung angesichts der in der Boomphase so schwach ausgebildeten Loyalität gegenüber dem Unternehmen und dem bekannten Drehtürphänomen in den Vorstandsetagen. Einige arbeitslose Bankangestellte stimmten stillschweigend sogar gegen ihre eigenen Interessen der These des Ökonomen Ludwig von Mises zu, wonach Wirtschaftskrisen und Konjunkturabschwünge auch eine positive Seite haben, weil die Wirtschaft von unproduktiven Unternehmen gereinigt würde. 30 Dennoch waren sie der Ansicht, die meisten ihrer Arbeitgeber hätten es an der nötigen Führung fehlen lassen, sie seien ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden und hätten als Autoritätspersonen abgedankt.
    Zeichen einer solchen Abdankung finden sich zum Beispiel in der von Bankern vorgebrachten These, die Regulierungsbehörden hätten die Banken besser beaufsichtigen sollen. Oder in der Aussage eines Managers aus der Führungsetage des Versicherungskonzerns AIG, der erklärte, sie alle seien »Opfer« hermetischer, undurchschaubarer Kreditausfall-Swaps, Hypothekenbündel und dergleichen gewesen. Die Erklärung, der Crash gehe auf Kräfte zurück, die sich der eigenen Kontrolle entzogen hätten, zeugt von einer gewissen Durchtriebenheit. Solange die Dinge gut laufen, beanspruchen die Spitzenleute das Verdienst für sich, laufen sie dagegen schlecht, liegt der Fehler im System.
    Der Verzicht auf Führung bedeutet nicht auch den Verzicht auf Macht oder Vorteile. Dieser Allgemeinplatz hat sich leider in den Jahren seit dem Crash von 2008 wieder einmal bestätigt, stecken die Spitzenmanager doch wieder ihre Vergünstigungen und Bonuszahlungen ein, nachdem sie die Gesellschaft in einem verheerenden Zustand zurückgelassen haben. Der Verlust der Autorität ist allerdings etwas komplizierter als der Versuch, dem angerichteten Chaos einfach den Rücken zu kehren. Richard Fuld, Vorstandsvorsitzender von Lehman Brothers, erklärte nach dem Zusammenbruch der Bank, es tue ihm leid, wie die Dinge sich entwickelt hätten. »Das ist eine wohlfeile Entschuldigung«, meinte einer seiner ehemaligen Angestellten mir gegenüber. Der stolze und kämpferische Richard Fuld war erstaunt über solche Reaktionen ehemaliger Untergebener, denn der Ausdruck von Bedauern hatte ihn persönlich durchaus sehr viel Überwindung gekostet. Doch seinem Bedauern fehlte jeder konkrete Hinweis auf Entscheidungen, für die er die Verantwortung übernommen hätte.
    Ob unsere Informanten nun bereits lange arbeitslos waren oder schon nach kurzer Zeit wieder eine neue Stelle gefunden hatten, alle waren sich einig über die Behandlung, die sie erfahren hatten, als sie ihren Arbeitsplatz verloren. Der plötzliche Tod riesiger Unternehmen wie Lehman Brothers bedeutete, dass die Angestellten per E-Mail von ihrer Entlassung erfuhren und nur einen Tag Zeit hatten, ihren Schreibtisch zu räumen. »Ich hatte eine spezielle Frage zu Aktienoptionen, aber alles, was ich bekam, war eine Standard-E-Mail«, sagte mir ein Buchhalter. »Niemand ging ans Telefon.« Ein anderer meinte: »Es war, als wären alle im Urlaub.« – »Warum machten sie sich überhaupt die Mühe?«, fragte eine IT-Koordinatorin, die ihren Job während des Crashs verloren hatte, und zeigte mir die E-Mail, in der die Firma sich für die Arbeit ihrer treuen Mitarbeiter bedankte, die leider in diesen harten Zeiten … Mit visuellen Metaphern versuchten sie ihrer Verärgerung Ausdruck zu verleihen: »Er konnte mir nicht einmal in die Augen sehen« – und noch pointierter ein Buchprüfer, dem man einen Tag Zeit gab, seinen Schreibtisch zu räumen: »Sie [die Leiterin der Personalabteilung] sah mich kein einziges Mal an. Der Einzige, der mich an diesem Tag genau ansah, war [der Wachmann am Eingang], der meinen Karton mit persönlichen Sachen durchsuchte, um sicherzustellen, dass ich keine firmeneigenen Unterlagen stahl.«
    Es ist unvermeidlich, dass Menschen sich verletzt fühlen, wenn sie ihre Arbeitsstelle verlieren, und wahrscheinlich gibt es keine humane Möglichkeit, einen Arbeitnehmer zu feuern. Aber ich sehe noch einen weiteren Grund, weshalb meine Informanten die Gleichgültigkeit hervorhoben. Darin kommt die gesellschaftliche Isolation der Finanzbranche vor allem in New York City zum Ausdruck.
    Die traditionelle Elite der Stadt bildete eine bürgerliche Gesellschaft, wie Thomas Mann sie in seinen Buddenbrooks

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