Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Gegensatz zu Søren Kierkegaard, der glaubte, diese Angst werde vom »Schwindel der Freiheit« ausgebrütet. 2 Mills dachte dagegen, Angst sei Ausdruck besonderer Wachsamkeit gegenüber den Rollen, die ein Mensch übernehmen müsse, und des ständigen Drucks, sie zu beurteilen. In diesem Sinne forme Angst den Charakter.
Gelegentlich wird behauptet, C. Wright Mills feiere das »Zeitalter der Angst«, wie W. H. Auden die Mitte des 20. Jahrhunderts genannt hat. Heute sind seine Ansichten insofern noch bedeutsam, als sie einen Maßstab bereitstellen, mit dem sich der Verfall des Charakters messen lässt. Das geschieht, wenn die Angst, eine Rolle zu spielen, verschwindet. Darum geht es beim unkooperativen Ich. In diesem Zustand bereitet es den Menschen kaum noch Unbehagen, wenn sie sich unkooperativ verhalten.
Woran kann man erkennen, dass jemand Angst empfindet? Körperliche Anzeichen sind Herzklopfen, Kurzatmigkeit und Übelkeit. Ein Gen mit der Bezeichnung PLXNA2 gilt als Kandidat für die Auslösung physischer Angst. Mentale Angst findet ihren Ausdruck in kognitiver Dissonanz. Dazu kommt es, wenn Menschen widersprüchliche Aussagen gleichzeitig für wahr halten, etwa wenn sie – ein Beispiel, das der Religionssoziologe Leon Festinger untersuchte – einerseits glauben, die Welt werde an einem bestimmten Tag untergehen, und gleichzeitig doch nicht so recht daran glauben. Sie halten ängstlich an ihren alten Vorstellungen fest, obwohl sie wissen, dass diese falsch sind. 3 Auch Tauben und Säugetiere können unter kognitiver Dissonanz leiden und ziellos in ihrem Käfig umherirren, wenn man ihnen widersprüchliche Wege, an Nahrung zu gelangen, beigebracht hat.
Im sozialen Leben kann man mit Angst umgehen, indem man sich hinter einer Maske verbirgt. Man zeigt nicht, was man fühlt. Eine Möglichkeit dazu war Georg Simmels im ersten Kapitel beschriebene Darstellung der sozialen Maske, die Menschen im Gewühl des großstädtischen Straßenlebens aufsetzen. Die Vielfalt des Geschehens und die große Zahl der Menschen veranlassen die Städter, sich trotz der Überfülle innerer Reize äußerlich kühl und undurchdringlich zu geben. Das ist ein überaus wichtiges Element des Charakters.
Auch politische Unterdrückung zwingt die Menschen, eine Maske aufzusetzen. So erklärte auf dem Höhepunkt der Stalinzeit 1948 die sowjetische Zeitschrift Semja i Schkola ( Familie und Schule ): »Die Herrschaft des Sozialismus hat die Tragödie der Einsamkeit liquidiert, unter der die Menschen in der kapitalistischen Welt leiden.« 4 »Liquidiert« ist hier das entscheidende Wort, denn das Regime hatte Abermillionen Menschen ermordet, die nicht ins Kollektivschema passten. Wie konnte man sich vor der Liquidierung schützen? Das einzige Mittel war die Maske. Ein sowjetischer Exilant erläuterte einmal, wie er sich auf Versammlungen verhielt: »Mit den Augen kann man eine Aufmerksamkeit ausdrücken, die man in Wirklichkeit gar nicht empfindet … Viel schwieriger ist es, den Ausdruck des Mundes zu beherrschen … Deshalb gibt es einem mehr Sicherheit, wenn man eine schwere Pfeife raucht. Durch das Gewicht der Pfeife werden die Lippen verformt und können nicht spontan reagieren.« 5 Diese Bemerkung drückt exakt aus, was Mills unter »Doppeldeutigkeit« verstand.
Die Notwendigkeit einer schützenden Maske beschränkt sich keineswegs auf totalitäre Gesellschaften. Vor einem halben Jahrhundert ging Reinhard Bendix in seiner Studie zum Fabrikleben ausführlich der alten Vorstellung nach, das Fließband biete nur sehr wenig Anregung. Im Unterschied zu den Fabriken in Boston waren die an der Westküste, die Bendix untersuchte, riesige Betriebe. Dort gingen die Meister ihrer Aufsichtstätigkeit in Verschlägen nach, die weit von den Fließbändern entfernt lagen; die Angestellten saßen in eigenen, abgesonderten Gebäuden, und die Arbeit erfolgte streng nach den Grundsätzen des Zeitmanagements, die Frederick Taylor erstmals für die Ford Motor Company entwickelt hatte. Unter diesen Bedingungen konnte sich das informelle soziale Dreieck nur schwer entfalten. Bendix fand heraus, dass Arbeiter, die in dieser Zwangsjacke gefangen waren, sich in ihrem Kopf ausmalten, wie die Arbeit anregender gestaltet werden könnte, diese Gedanken jedoch für sich behielten, weil sie befürchteten, sonst als »Störenfriede« eingestuft oder bestraft zu werden. Nach der Arbeit sprachen sie untereinander bei einem Bier über diese Vorstellungen, aber bei der
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