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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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prägt auch ihre Erfahrung mit Kooperation. Die Forschung zum sozialen Leben von Kindern verweist auf etwas, das Tocqueville falsch verstanden hatte, und zwar seine Ansicht, wonach in der modernen Gesellschaft die Tendenz zu einer sozialen und kulturellen Homogenisierung bestehe, zu einer »Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen«, die er in Amerika zu erkennen glaubte und die sich seines Erachtens auch in Europa ausbreiten werde. Schon früh in ihrer Entwicklung lernen amerikanische Kinder, dass gemeinsame Werte unterschiedliche Folgen haben, je nach den Bedingungen, unter denen das Kind aufwächst.
    Einen anderen Weg wählten wir bei der Erforschung von Erwachsenen in der Arbeitswelt. Dort versuchten wir herauszufinden, welche Verbindung zwischen Kooperation und dem Erleben von Vertrauen und Autorität steht. Diese Verbindung kann auf informeller Ebene hergestellt werden und sorgt in gewissem Umfang für einen Ausgleich der formalen Ungleichheit und Isolation der Menschen am Arbeitsplatz. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Arbeiter in Amerika problemlos in der Lage, solch ein informelles soziales Dreieck aufzubauen. Die Gemeinschaftserfahrungen des Krieges und die Stabilität des Fabriklebens ermöglichten es ihnen, eine Verbindung herzustellen zwischen verdienter Autorität, Vertrauen im Sinne eines Glaubenssprungs und Kooperation in Situationen, in denen am Arbeitsplatz etwas schieflief.
    Die kurzfristige Orientierung veränderte diese Erfahrungen am Arbeitsplatz aufgrund neuer Konstellationen des globalen Investments und des Shareholdervalue. Mitte des 20. Jahrhunderts bestanden sozial gesehen noch gewisse Übereinstimmungen zwischen den Finanzinstituten an der Wall Street und den Fabriken, doch dann wurde die Wall Street zum Inbegriff einer kurzfristigen Orientierung. Es entstand eine leichtgewichtige Form von Kooperation in Gestalt der Teamarbeit. Das Vertrauen im Sinne eines Glaubenssprungs schwand, da die einfachen Angestellten an der Wall Street nun über größere technische Kompetenz verfügten als ihre Vorgesetzten. Während der Finanzkrise scheuten sich diese Vorgesetzten, Autorität zu zeigen, statt dass sie sich bemühten, sie zu verdienen. Da Tocqueville den Bereich Arbeit weitgehend vernachlässigte und der Wirtschaft insgesamt nur wenig Aufmerksamkeit schenkte, konnte er diese Veränderungen nicht vorhersagen. Ein Ergebnis findet sich jedoch in seinen Schriften. Angesichts einer schwachen, leichtgewichtigen und unzuverlässigen Sozialordnung ziehen die Menschen sich auf sich selbst zurück.
    Das sind die Kräfte, die in der modernen Gesellschaft den Ausschlag geben und dafür sorgen, dass der Rückzug in der Erfahrung der Menschen größeres Gewicht erlangt als die Kooperation. Die Philosophen Amartya Sen und Martha Nussbaum sind der Ansicht, die Gesellschaft solle die Fähigkeiten der Menschen erweitern und bereichern, vor allem die Fähigkeit zur Kooperation, doch stattdessen verringert die moderne Gesellschaft diese Fähigkeit. Oder wie man es in China sähe: In Amerika und Großbritannien fehlt es an guanxi . Außer beim Cowboykrieger verwischen sich im Rückzugsverhalten die Grenzen zwischen Lust und Angst, Wille und Unterwerfung. Auch das ist Teil des Verlusts an Charakter.

    Als Anhang zu meiner Darstellung der Sozialpsychologie des Rückzugs möchte ich nun kurz ein Gegenbeispiel betrachten – eine Form von Rückzug, die nicht die Angst zu verringern versucht, sondern sie annimmt: die Obsession.

Obsession

    Bei der Untersuchung der Folgen der protestantischen Reformation für die Arbeit und das Wirtschaftsleben wurde der Soziologe Max Weber (1864–1920) unbeabsichtigt zu einem großen Analytiker der Obsession. In der berühmten »Arbeitsethik«, die Weber beschrieb, geht es vor allem um die Obsession, »sich selbst zu beweisen«, und zwar durch seine Arbeit. In seiner üblichen Bedeutung verweist der Ausdruck »Arbeitsethik« auf den Wunsch nach Erfolg. Weber gab ihm eine andere Bedeutung, und zwar im Zusammenhang mit seiner eigenen Amerikareise 1904 , dem Jahr, in dem er Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus veröffentlichte. Er besuchte Amerika auf dem Höhepunkt des »Goldenen Zeitalters«, als die Vanderbilts Dinner für siebzig Personen veranstalteten, die von siebzig gepuderten Lakaien bedient wurden. In Webers Augen schien demonstrativer Konsum, wie die Vanderbilts ihn praktizierten, nicht erklären zu können, was die Menschen dazu bringt, für die

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