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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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Er stellt dem In-der-Welt-Sein und der Auseinandersetzung mit den Veränderungen und Brüchen der Welt einen gleichsam in der Zeit erstarrten Zerfallszustand gegenüber. 16
    Selbstzufriedenheit hatte im Weltbild der von Unruhe geprägten frühen Neuzeit keinen Platz. Martin Luthers Glaube, die Technologie der Sextantenhersteller oder eine Diplomatie, wie Chapuys sie praktizierte, all das zielte darauf ab, Zufriedenheit mit sich selbst und der Umwelt nicht so leicht aufkommen zu lassen. Heute gibt es dagegen Kräfte, die Selbstzufriedenheit im alltäglichen Leben verankern und die unsere Vorfahren nicht vorhersehen konnten. Diese neue Form von Selbstzufriedenheit gründet im Individualismus. Wenn Selbstzufriedenheit sich mit Individualismus verbindet, leidet die Kooperation.
    Unser Führer zu alledem kann niemand anderes sein als Alexis de Tocqueville (1805–1859), der den Ausdruck »Individualismus« im modernen Sinne prägte. Der aus konservativem Landadel stammende Tocqueville geriet 1830 in eine Krise, als das damals in Frankreich herrschende reaktionäre Regime für ein paar Monate von Revolutionären gestürzt wurde, in deren Gefolge ein politisch gemäßigterer, ökonomisch orientierter König an die Macht kam. Die meisten Adligen aus Tocquevilles Schicht zogen sich aus dem öffentlichen Leben auf ihre Landgüter zurück und gingen in die innere Emigration. Der junge Tocqueville beschloss dagegen 1831 , gemeinsam mit seinem Freund Gustave de Beaumont nach Amerika zu reisen, vorgeblich, um das dortige Gefängniswesen zu studieren. In Wirklichkeit suchte Tocqueville nach Hinweisen darauf, wie die europäische Gesellschaft der Zukunft wohl aussehen mochte.
    Das Ergebnis der Reise war der erste Band seiner Abhandlung Die Demokratie in Amerika , den er 1835 veröffentlichte. Auf den ersten Blick geht es darin keineswegs um Individualismus, sondern, wie er selbst schrieb, um die »Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen«, das heißt, er wollte den in Amerika sichtbaren Folgen der These nachgehen, wonach alle Menschen als Gleiche geboren werden – Folgen vor allem auf politischem Gebiet, aber auch in der Lebensweise der Menschen. Tocqueville hielt die neue Lehre für richtig, weil sie allen Menschen Freiheit gab, aber er befürchtete eine Tyrannei der Mehrheit, in der die Masse die Minderheiten aktiv unterdrückt und Konformität einfordert. Die Forderung nach Konformität führte er nicht auf die Politik zurück, sondern auf die Gesellschaft. Raymond Aron, Tocquevilles großer moderner Interpret, sieht in Tocqueville den Propheten der Massenkultur. 17 Die sozialen Sitten gleichen sich in Tocquevilles Augen einander in dem Sinne an, dass sie homogen werden, selbst wenn die materielle Ungleichheit bleibt oder sich sogar noch vergrößert. Aus heutiger Sicht würde man sagen, der Hausmeister und der Manager teilen dieselbe Kultur in Bezug auf Konsumwünsche, Familie und Gemeinschaftsleben. Tocqueville zufolge war die amerikanische Gesellschaft vom Streben nach Konformität geprägt. An seinen Freund John Stuart Mill schrieb er, die amerikanische Gesellschaft empfinde tiefen Zorn über Menschen, die sich nicht einfügten.
    Im zweiten Band seines Werkes, der 1840 erschien, wechselte Tocqueville die Perspektive. Nun galt seine Sorge eher dem Rückzug der Bürger aus der Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten als dem Konformitätsdruck auf Außenseiter oder in der Politik auf die Unterdrückung von Minderheitsmeinungen. Hier prägte Tocqueville die Bezeichnung »Individualismus« für die Situation eines Menschen, der solch einen Rückzug vollzogen hat. Und so fühlt Individualismus sich in Tocquevilles plastischer Prosa an:

    Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber: seine Kinder und seine persönlichen Freunde verkörpern für ihn das ganze Menschengeschlecht; was die übrigen Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, und er fühlt sie nicht; er ist nur in sich und für sich allein vorhanden, und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, daß er kein Vaterland mehr hat.

    Dieser individuelle Rückzug scheint ein perfektes Rezept für Selbstzufriedenheit zu sein. Man geht davon aus, dass die Menschen so sind wie man selbst, und kümmert sich nicht um solche, die anders sind. Und falls sie Probleme haben sollten, sind es ihre eigenen Probleme. So werden Individualismus und Gleichgültigkeit zu

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