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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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Zwillingen.
    Als Tocqueville den zweiten Band seiner Abhandlung schrieb, hatte er den ersten durchaus nicht vergessen. Er musste nun eine Verbindung zwischen Individualismus und Gleichheit herstellen. Zu diesem Zweck entwickelte er einen Gedanken, der in den modernen Sozialwissenschaften mit dem Ausdruck »Statusangst« bezeichnet wird. Tocquevilles Individuum leidet unter Statusangst, sobald es Unbehagen darüber empfindet, dass andere seinen Geschmack als Konsument, im Familienleben oder im öffentlichen Auftreten nicht teilen. Mit ihrer Andersartigkeit scheinen sie sich wichtigzumachen oder sich irgendwie über einen zu erheben. Das empfindet man als Beleidigung. »Anders« wird als besser oder schlechter, überlegen oder unterlegen interpretiert – als neidvoller Vergleich. Das Lob der Gleichheit ist für Tocqueville in Wirklichkeit Angst vor Ungleichheit. »Ressentiment« bezeichnete damals wie heute die Umwandlung von Unterschieden in Ungleichheit. Obwohl Ressentiments keine nationalen Grenzen kennen, gibt es im amerikanischen Leben unserer Zeit zweifellos viele davon, etwa wenn Leute, die sich als ganz gewöhnliche, gottesfürchtige Amerikaner bezeichnen, Menschen, die anders sein wollen, den Vorwurf machen, sie seien elitär.
    Doch statt den Versuch zu machen, die Andersartigen auszumerzen oder zu unterdrücken, wie es einer Tyrannei der Mehrheit entspräche, treibt der Individualismus Menschen, die sich angegriffen fühlen, noch tiefer in sich selbst hinein, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich wohlfühlen können. Sie versuchen, sich »einzuigeln«. Weshalb Rückzug statt Unterdrückung? Weshalb schrieb Tocqueville den zweiten Band seiner Abhandlung?
    Die Antwort hat mehr mit dem damaligen Frankreich als mit Amerika zu tun. Das neue Regime Louis-Philippes war nicht so repressiv wie das alte. Im Privatleben war alles erlaubt, solange man keine politischen Veränderungen anstrebte. So wandten sich denn die Franzosen – die wir Angelsachsen für so streitlustig halten – nach innen, konzentrierten sich auf ihre Privatangelegenheiten und gingen auf Distanz zum öffentlichen Leben, statt sich lautstark darüber aufzuregen. Tocqueville sah darin ein erstes Anzeichen von Individualismus in Europa, ein Anzeichen jenes Individuums, das »nur in sich und für sich allein vorhanden« ist.
    Heute können wir auch eine andersartige Antwort geben, die auf den Rückzugsimpuls verweist. Seit langem schon sieht die Psychologie einen Zusammenhang zwischen Loslösung und Dissoziation. Psychoanalytiker wie Kohut repräsentieren hier eine Forschungsrichtung, Sozialpsychiater wie Lifton eine andere. Verhaltenspsychologen haben versucht, Liftons Gedanken der emotionalen Betäubung aus dem Behandlungszimmer herauszuholen und im Laborexperiment zu untersuchen. Zu diesem Zweck erprobten sie zum Beispiel das sogenannte Csikszentmihalyi-Diagramm. Dabei handelt es sich um ein Tortendiagramm, das die Zusammenhänge zwischen Angst, Apathie, Langeweile, Entspannung, Kontrolle, Flow und Erregung verdeutlichen soll. 18 Zur Angstreduktion kommt es durch die Neutralisierung der Stimulation. Sowohl Apathie als auch Langeweile und Entspannung vermögen Erregung zu neutralisieren.
    Vor allem die Langeweile spielt eine wichtige Rolle in der Angstentlastung. Sowohl Tiere als auch Menschen streben danach. Forscher haben eine »Skala der Anfälligkeit für Langeweile« entwickelt, um das Ausmaß zu messen, in dem Menschen und andere Tiere sich zur Langeweile hingezogen fühlen. 19 Der dahintersteckende Gedanke mag nicht sogleich einleuchten, obwohl er eigentlich überzeugend ist. Wer den tausendsten industriell gefertigten Hamburger isst, kann von dem Geschmack nicht sonderlich begeistert sein, aber da er ihm vertraut ist, empfindet er ihn als angenehm. Ähnliches gilt für eine Couchpotato, die sich wohlfühlt, wenn sie mit halbem Auge Fernsehsendungen verfolgt, die ihre Aufmerksamkeit nicht wirklich fesseln. Beide erreichen einen hohen Wert auf der »Langeweile-Anfälligkeitsskala«. Sie wünschen sich eine Vertrautheit, die keine Überraschungen birgt. Von Apathie unterscheidet sich Langeweile durch ihren stärker selektiven Charakter. Die Apathie eines im klinischen Sinne Depressiven ist eine globale und totale Loslösung, während Langeweile mit bestimmten Aktivitäten verbunden bleibt. Mihaly Csikszentmihalyi selbst vertritt die vielleicht sonderbar erscheinende Ansicht, dass Langeweile gewisse Fertigkeiten erfordere. Man müsse

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