Zwei an Einem Tag
bietenden Gelegenheit an, dass er Dexter für einen Aufschneider hält, weil er in der Öffentlichkeit steht, und für einen versnobten Lackaffen, weil er lieber Taxi fährt, als den Nachtbus zu nehmen, und gute Restaurants dem Lieferservice vorzieht. Das Schlimmste ist, dass Emma bei den ständigen Herabsetzungen und Spitzen über seine Fehler mitmacht. Wissen sie denn nicht, wie schwer es ist, anständig und mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben, wenn man ein ereignisreiches Leben voller Möglichkeiten führt? Wenn Dexter im Restaurant die Rechnung übernehmen oder für ein Taxi anstelle des Nachtbusses bezahlen will, murren und schmollen die beiden, als hätte er sie beleidigt. Warum können sich die Leute nicht für ihn freuen und ihm seine Großzügigkeit danken? Das letzte grausame Treffen – ein Videoabend, bei dem sie sich auf einem ramponierten Sofa Star Trek: Der Zorn des Khan angesehen und dazu Dosenbier getrunken und Curry gegessen haben, wobei ihm gelb fluoreszierendes Ghee auf die Dries-van-Noten-Hose getropft ist – hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ab jetzt würde er sich nur noch allein mit Emma treffen.
Neuerdings verspürt er eine irrationale, unvernünftige – ja, was eigentlich? Eifersucht? Nein, das nicht, vielleicht eher etwas wie Groll. Er war davon ausgegangen, dass Emma jederzeit für ihn erreichbar ist wie der Notdienst. Seit dem verheerenden Tod seiner Mutter an Weihnachten war er mehr und mehr von ihr abhängig geworden, während sie immer weniger Zeit für ihn hatte. Früher hat sie ihn immer sofort zurückgerufen, heute vergehen Tage ohne ein Lebenszeichen. Sie sagt, sie sei »mit Ian weg« gewesen, aber wohin gehen sie? Was treiben sie? Zusammen Möbel aussuchen? Sich Videos »reinziehen«? Zum Quizabend in den Pub gehen? Ian hat sogar schon Emmas Eltern, Jim und Sue, kennengelernt. Sie vergöttern ihn, sagt sie. Warum hat Dexter Jim und Sue noch nie getroffen? Würden sie ihn nicht noch mehr vergöttern?
Das Ärgerlichste ist, Emma scheint ihre neu gewonnene Unabhängigkeit zu genießen. Er hat das Gefühl, als würde ihm eine Lektion erteilt, als würde sie ihm ihre Zufriedenheit unter die Nase reiben. »Du kannst nicht erwarten, dass sich alle immer nur nach dir richten, Dexter«, hat sie ihm schadenfroh mitgeteilt, und alles nur, weil sie nicht zur Live-Übertragung seiner Show ins Studio kommen will.
»Soll ich Oliver! etwa absagen? Nur weil du im Fernsehen bist?«
»Kannst du nicht hinterher kommen?«
»Nein! Das ist meilenweit weg!«
»Ich schick dir ’nen Wagen!«
»Ich muss nachher noch mit den Schülern und Eltern reden …«
»Wozu denn?«
»Dexter, jetzt sei vernünftig, das ist mein Job!«
Er weiß, er verhält sich rücksichtslos, aber es würde ihm helfen, Emma im Publikum zu sehen. Er ist ein besserer Mensch, wenn er sie in der Nähe weiß, und sind Freunde nicht dazu da, einen anzuspornen und das Beste aus einem herauszuholen? Emma ist sein Talisman, sein Glücksbringer, und jetzt werden weder sie noch seine Mutter da sein, und er fragt sich, wozu er das alles überhaupt macht.
Nach einer ausgiebigen Dusche fühlt er sich besser, zieht sich einen leichten Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt und eine helle Leinenhose mit Kordelzug an, die ohne Unterwäsche getragen wird, schlüpft in ein paar Birkenstockschuhe und trabt schwungvoll zum Zeitungskiosk hinunter, um die Programmvorschauen zu lesen und zu prüfen, ob Presse und Publicityabteilung ihren Job gemacht haben. Der Verkäufer begrüßt seinen prominenten Kunden mit einem Lächeln, wie es dem Anlass gebührt, und Dexter trabt zurück in seine Wohnung, den Arm voller Zeitungen. Er fühlt sich jetzt besser, beklommen, aber gleichzeitig aufgekratzt, und während die Espressomaschine warmläuft, klingelt wieder das Telefon.
Noch bevor der Anrufbeantworter sich einschaltet, weiß Dexter, dass sein Vater dran ist und er nicht abnehmen wird. Seit dem Tod seiner Mutter werden die Anrufe immer häufiger und peinlicher: Sein Vater stottert, ist zerstreut und wiederholt sich ständig. In letzter Zeit scheinen selbst die einfachsten Handgriffe seinen Vater, den Selfmade-Man, zu überfordern. Die Trauer hat ihn entmannt, und bei Dexters seltenen Besuchen hat er ihn hilflos den Wasserkessel anstarren sehen, als handle es sich um ein außerirdisches Artefakt.
»Na los – sprich mit mir!«, sagt der Idiot auf Band.
»Hallo, Dexter, hier spricht dein Vater.« Er benutzt seine gewichtige Telefonstimme.
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