Zwei Frauen: Roman (German Edition)
allein berühmt.«
Ich wusste nicht so recht, ob ich ihr das glauben sollte, aber da für meine Werbung ohnehin Frau Gruber zuständig war, interessierte es mich auch nicht sonderlich. Für mich war Hilary als Persönlichkeit von Bedeutung. Ich bewunderte sie einfach, weil sie, obwohl nur wenig älter als ich, längst eine Frau, ich aber immer noch ein Kind war. Sie war hübsch, und sie hatte so etwas an sich, was alle betörte. Sie konnte hervorragend mit Menschen umgehen, insbesondere mit Männern. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass ich jeden Morgen ab halb zehn einiges mit ihr zu besprechen hatte.
Eine halbe Stunde später stand ich dann im Ballettsaal an der Stange und absolvierte mein erstes Exercice – Pliés, Tendus, Jetés, Frappés, Ronds de Jambe par Terre usw. Nach diesem Stangentraining kam das Adagio, und auf das Adagio folgten die Pirouetten, die kleinen und großen Sprünge.
Zwischen halb zwölf und zwölf saß ich dann mit den anderen Tänzern in der Kantine und gönnte mir einen kleinen Imbiss. Die Proben für die jeweiligen Vorstellungen dauerten bis zwei, danach gab es einen weiteren Imbiss, und alsdann marschierte ich quer durch die Innenstadt zu Frau Grubers Ballettschule.
Das war mein eigentliches Zuhause. Ich fand nirgends auf der Welt jemals wieder ein ähnliches Gefühl von Heimat. Jeder Winkel dieses Gebäudes war mir vertraut, ich kannte die Geräusche jeder einzelnen Bodenplatte, ich hätte jede der Fotografien, die an den Wänden hingen, mit geschlossenen Augen malen können.
Ab halb vier stand ich dort neben zehn- bis vierzehnjährigen Mädchen an der Stange und absolvierte mein zweites Exercice. Frau Gruber hielt dabei einen Bambusstock in der Hand, mit dem sie den Takt der Musik unterstrich. Wenn man nicht gehorchte, schlug sie damit auch schon mal zu. Also gehorchte man: »Höher die Beine! – Die Knie strecken! – Den Bauch rein! – Die Brust vor! – Die Schulter runter! – Den Po anspannen! – Nicht verkrampfen!!!«
Während die Kinder zu meiner Rechten und Linken zumeist unter diesem Tonfall litten, weil sie nichts mehr hassten als Ballett, genoss ich sogar die Befehle. Mehr noch als sonst brannte in jenen Augenblicken die Seligkeit in mir, eine Tänzerin zu sein, einen Körper voller Musik zu haben. In diesem Bewusstsein brachte ich dann unter Acht- bis Zehnjährigen auch noch eine weitere Kinderklasse hinter mich. Dann gab es eine kurze Pause, und ab sechs Uhr probten Peter und ich unser Pas-de-deux-Repertoire.
Dieser Peter Iwanow, seines Zeichens ein aufstrebender Solotänzer, war neben Frau Gruber der zweite Nagel zu meinem Sarg. Ich war gerade erst zwölf Jahre alt gewesen, als er mich bei einem offiziellen Vortanzen aus Scharen junger Mädchen zu seiner zukünftigen Partnerin auserkoren hatte. Seitdem wurde ich allerorten beneidet, denn Peter war schön und groß und blond, und dass er homosexuell war, sah man ihm nicht an.
»Sei dankbar!«, mahnte man mich immer wieder. »Du darfst die gleiche Luft atmen wie er.«
Wie schnell man von dieser Luft die Nase voll hatte, ahnte indes keiner dieser Neider. Peter verlangte nämlich Kadavergehorsam. Ich hatte zu funktionieren und ansonsten zu schweigen, mit anderen Worten: Peter und Frau Gruber verband eine Art von Seelenverwandtschaft. Sie waren im gleichen Alter und vom gleichen Schlage, und sie gefielen sich in den Rollen meiner Kerkermeister und holten das Letzte aus mir heraus. So beherrschte ich mit sechzehn Jahren den Pas de deux aus dem Don Quijote , mit siebzehn den Schwarzen Schwan und mit achtzehn schließlich die Spitze des Eisbergs, Le Corsaire . Um das alles zu lernen, musste man schon täglich üben. Also übte ich täglich, und anschließend lief ich, sofern ich Vorstellung hatte, wieder zum Theater zurück. Das war meist gegen acht Uhr, und der Pförtner hatte in der Zwischenzeit schon gewechselt, nur ich war immer noch die Gleiche.
Oben in der Garderobe ließ ich mich schminken, schlüpfte in mein Kostüm und verschwand zu einem weiteren kurzen Aufwärmtraining im Ballettsaal.
Irgendwann stand ich dann auf der Bühne und machte meine Mätzchen. Mit Kunst hatte das nur selten etwas zu tun, denn das Gros der Regisseure liebte es zu »abstrahieren«. Da nahm man dann einfach eine Tschaikowsky-Symphonie und ließ dazu ein Ballettensemble drei viertel nackt in einer Schlammdekoration herumstampfen, oder man bediente sich einer Puccini-Oper und verlegte die Handlung ins 23. Jahrhundert, wo die
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