Zwei Frauen: Roman (German Edition)
Schlafmittel. An dem Abend lief ein Uralt-Western mit John Wayne im Fernsehen, den wollte die Schwester in Ruhe genießen. Da in dem Film so viel geschossen wurde, schloss sie die Tür des Schwesternzimmers hinter sich. Wer etwas wollte, benutzte ohnehin die Klingel.
Während John der Erste nun von einem Pferd aufs andere stieg und sämtliche Hollywood-Hügel beritt, wachte Andrea von Schmerzen gepeinigt auf. Sie wollte aufstehen, aber kaum dass sie auf ihren Füßen stand, wurde sie von einer so unbändigen Schmerzwelle erfasst, dass sie zu Boden ging. Den Klingelknopf konnte sie sehen, erreichen konnte sie ihn nicht. Ihre Kraft reichte nicht aus, um sich zu bewegen oder zu schreien, und so lag sie wimmernd da und hoffte auf ein Wunder.
Doktor Behringer hatte in dieser Nacht Bereitschaftsdienst. Der Befund der Gynäkologen ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, denn für eine simple Eierstockentzündung erschien ihm Andreas Blutbild plötzlich zu schlecht. Er wollte der Sache zwar erst am nächsten Morgen gezielt auf den Grund gehen, hielt es aber dennoch für angebracht, noch einmal nach seiner Sorgenpatientin zu sehen. Als er sie fand, hatte John Wayne gerade den sechsundzwanzigsten finsteren Gesellen erschossen, und während der Cowboy sich das sechsundzwanzigste Glas Whiskey genehmigte, startete im Operationssaal der Gynäkologen eine Rettungsaktion ohnegleichen.
Extrauteringravidität! – Das Wort war zu schwierig, als dass ich damit etwas hätte anfangen können. Außerdem hatte Claudia noch nie davon gehört, und deshalb war ich mir sicher, dass es nichts Ernstes sein konnte. Wir machten uns also keine Gedanken, und so traf uns der Schock doppelt hart. Denn während John Wayne in der Schlusseinstellung des Spielfilms mit lederbeschlagenen Hosen in die von der Abendsonne rot gefärbte Prärie entschwand, starb nur wenige Meter von unserem Fernsehapparat entfernt Andrea Becker. – Extrauteringravidität! Bauchhöhlenschwangerschaft!
Diese deutsche Übersetzung des Zungenbrechers wirkte auf Claudia wie der berühmte Knopfdruck. Sie explodierte ohne jedwede Vorwarnung, verfluchte das »Scheiß-Männerpack«, wollte alle »kastrieren«, und das auch noch sofort.
»Wen nich taucht – Pimmel ab!«, keifte sie, und die Nachtschwester war die Einzige, die das mit Humor trug.
»Da bleibt dann aber doch kaum mehr einer übrig«, witzelte sie, während sie Claudia – in memoriam Bertram Schuster – ein Beruhigungsmittel spritzte. »Doch«, erwiderte Claudia mit letzter Kraft, »den Papst!« Dann schlief sie ein.
Ich hatte derweil stumm und starr auf meinem Bett gesessen. Aber einen klaren Gedanken zu fassen war mir einfach nicht möglich. Der Schmerz war zu groß. Es war ein Schmerz, den ich nicht erklären konnte, den ich aber kannte. Er war mir vertraut, als wäre er ein Stück von mir, und er bestand aus Mitleid mit Karl-Heinz, aus Hass auf Andrea, aus Schuldgefühl für diesen Hass und aus Scham für dieses Mitleid. Es war ein grauenvoller Schmerz, aber eben nur ein Schmerz, ein Gefühl, für das es keine logische Erklärung zu geben schien, eben »Mumpitz«. Nachdem ich mehrere Stunden gebraucht hatte, um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, bat ich um eine Schlaftablette. Ich brauchte einfach Ruhe.
Draußen auf dem Flur herrschte eine beklemmende Atmosphäre. Das Licht war ausgeschaltet, und aus dem Schwesternzimmer drang nur der Schein der Tischlampe. Normalerweise reichte diese Beleuchtung kaum zum Lesen aus. In der völligen Dunkelheit wirkte sie jedoch wie der gleißende Strahl eines Scheinwerfers, und das machte die Atmosphäre unheimlich. Ich fühlte mich gezwungen, auf das Licht zuzugehen, wenn ich nicht in der Nacht ersticken wollte. Es zog mich magisch an und hüllte mich ein in sonderbare Geräusche. Es klang wie ein dumpfes Lallen, wie ein würgendes Schluchzen, unwirklich, gespenstisch. Erst als ich die Tür des Schwesternzimmers erreichte, sah ich, dass meine Furcht vor übersinnlichen Phänomenen unbegründet war. Die Nachtschwester saß in der äußersten Ecke auf einem Stuhl, vor ihr auf dem Fußboden kniete Karl-Heinz Becker. Sein Kopf lag in ihrem Schoß, er weinte … er weinte …! Als ich das sah, erschrak ich so sehr, dass ich das Gefühl hatte, fremde Kräfte würden meine Kehle zuschnüren. Ich konnte kaum mehr atmen. Die Nachtschwester fragte, was sie für mich tun könnte, aber ich brachte keinen Laut hervor. Im gleichen Moment blickte Karl-Heinz zu mir herüber. Seine Augen
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