Zwei Frauen: Roman (German Edition)
alle in Sünde geboren sind«, führte ich aus. »Bis vor kurzem habe ich das nur auf die Vertreibung aus dem Paradies oder auf die Sexualität bezogen.«
»Und jetzt?«, hauchte Daniela.
»Jetzt? – Es ist eine Sünde, sich satt zu essen, wenn andere hungern, es ist Sünde, auf einem Bein Pirouetten zu drehen, während andere ohne Beine im Rollstuhl sitzen, es ist Sünde, in einer Villa zu wohnen, wo es doch vor der Stadt Baracken gibt. Man erzeugt Neid, aber auch Schmerz, und deshalb – nur deshalb – ist der schöne, erfolgreiche Reiche beladener als der verkrüppelte Bettler am Wegesrand. Man müsste ihn beschenken und sich dafür bedanken, dass man ihn beschenken darf, denn nur so ließe sich ein Hauch dieser auferlegten Lebenssünde überhaupt abbüßen. – Aber wer tut das schon?«
Daniela war sprachlos. Sie saß da, als hätte sie soeben erfahren, dass das Jahr nicht zwölf, sondern dreizehn Monate hatte, und sie schien nun ernsthaft zu überlegen, ob sie das glauben sollte.
»Tut mir Leid!«, erklärte sie schließlich mit fester Stimme. »Diese Gedankengänge sind mir zu schwierig.«
»Sie sind nun mal nicht einfacher«, gab ich zurück.
»Du machst es dir damit aber einfach, Eva. Du hast einem Menschen beim Sterben geholfen, und statt darüber nachzudenken, zerpflückst du die Sünden dieser Welt. Das ist sehr einfach.«
Ich lächelte. »Vielleicht. Ich bilde mir aber ein, dazu ein Recht zu haben. Alles andere ist nämlich so schon schwer genug.«
»Das wusstest du aber doch vorher.«
»Eben. Jetzt ist es zu spät, und deshalb will ich jetzt auch nicht mehr darüber reden. – Jetzt muss ich damit leben.«
»Und du glaubst, dass du es kannst?«
»Ich will es.«
Daniela sah mich an, wie sie mich schon lange nicht mehr angesehen hatte. Es war ein Blick, mit dem sie sonst nur Fremde betrachtete, Menschen, die sie nicht kannte und wohl auch nie kennen lernen würde. Nach einer Weile stand sie dann auf und ging wortlos zur Tür. »Eva!?« Sie hielt die Klinke bereits in der Hand, und sie drehte sich auch nicht noch einmal zu mir um.
»Ja.«
»Ich fürchte, dass du in den nächsten Wochen mehr Kraft brauchen wirst, als du hast.«
Ich lächelte – und wenn sie das auch nicht sah, so spürte sie es zumindest, vielleicht hörte sie es sogar.
»Das fürchte ich nicht, Daniela … das weiß ich!«
Wenige Tage später fand Claudias Beerdigung statt. Es war ein grauenhafter Tag. Schon ganz früh am Morgen begann es zu regnen, und es hörte bis zum späten Abend auch nicht wieder auf. Eimerweise schien sich das Wasser auf die Erde zu ergießen, es war fast schon unheimlich. Meine Eltern waren auf meinen Wunsch zum Friedhof gegangen und erzählten mir anschließend, dass Claudia nur einen einzigen Kranz bekommen hatte – »Und der war noch von der Station hier!«, – und dass es nicht einmal ein Kaffeetrinken gegeben hatte –, »Wenn es möglich wäre, hätten die sicher auch noch den Sarg gespart!«
Um so glücklicher war ich, dass meine Eltern die nassen Füße und die damit verbundene Sommergrippe auf sich genommen hatten, um Claudia meinen Abschiedsgruß zu bringen: dunkelrote Rosen. Es war der gleiche Strauß, den Claudia zu ihrem letzten Geburtstag bekommen hatte, ein Strauß, so feierlich, dass er von Anfang an für einen Sarg bestimmt gewesen war … Vielleicht hatte sie ihn vom Himmel aus noch sehen können, bevor die schwere Erde ihn unter sich begrub … vorbei!
Von einem Tag auf den anderen sprach man nicht mehr von Claudia, und es fragte plötzlich auch niemand mehr nach ihr. Sie, die noch vor wenigen Tagen mit mir gelebt, gelacht und geweint hatte, sie schien endgültig weg zu sein, nicht nur aus den Augen, sondern auch aus dem Sinn. Die Welt gab sich vergesslich, und das brachte mich fast um. Wohin ich sah, sah ich die Leere: in dem ausgeräumten Nachttisch zu meiner Rechten, in dem frisch bezogenen Bett mit seiner penetrant blütenweißen Wäsche, in dem Regal, dem Schrank … nirgends war mehr etwas, was an Claudia erinnerte, nur in mir.
Irgendwann begann ich zu begreifen, dass ich nur aus Egoismus weinte. Das wurde mir täglich klarer. Ich weinte nicht, weil ich bereute, was ich getan hatte, oder weil ich Claudia den ewigen Frieden nicht gönnte. Ich weinte, weil sie nicht mehr da war, weil ich mich einsam und verlassen fühlte.
Einsam und verlassen! Als mir diese beiden Worte in den Sinn kamen, spürte ich sofort, dass sie der Schlüssel zu allem waren. Einsam und
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