Zwei Frauen: Roman (German Edition)
grenzenlos. Entsprechend fröhlich lief ich in mein Zimmer zurück, hüpfte die Treppe hinunter, schlitterte über den blank gebohnerten Linoleumboden, geradewegs in die Arme von Doktor Behringer, der mich bereits gesucht hatte.
»Was strahlen Sie denn so?«, begrüßte er mich. »Haben Sie einen Sechser im Lotto?«
»Nein«, gab ich lachend zurück, »oder doch! Mir hat endlich mal jemand seine Meinung zur Operation gesagt. Ihr traut euch doch alle nicht, mir zu sagen, was ihr an meiner Stelle tätet.«
»Da traue ich mich sehr wohl!«, erwiderte Behringer, um mir alsdann klar zu machen, dass er entschieden gegen die Operation wäre.
»Ihre Krankheit haben wir im Griff«, erklärte er mir. »Die Chemotherapie hat Ausbreitung und Fortschreiten nachhaltig verhindert, und die Bestrahlungen haben die Tumoren verkleinert und eingekapselt. Jetzt aufzumachen, könnte bedeuten, dass alles wieder von vorn anfängt.«
Um nicht »aus den Latschen zu kippen«, wie Claudia
das immer genannt hatte, setzte ich mich erst mal auf mein Bett.
»Ohne die Operation hätte ich den Krebs aber doch noch im Körper«, wandte ich zaghaft ein.
»Er kann aber doch für den Moment nichts anrichten«, erwiderte Behringer.
»Für den Moment nicht!«
»Na, einen Garantieschein für hundert Jahre Leben gibt Ihnen die Operation auch nicht. Zumal die Gefahr, dass Sie sie gar nicht überleben, schon so groß ist.«
»Ihnen ist der Spatz in der Hand also lieber als die Taube auf dem Dach?«
Behringer nickte und nannte mir auch sofort seine Gründe. »Es gibt ein uraltes Sprichwort, Eva: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!«
Damit hatte ich ihn also glücklich wieder erreicht, diesen Zustand der inneren Zerrissenheit, der auf äußerem Gleichgewicht beruhte. Der eine sagte so, der andere sagte so, der Rest hielt sich heraus, und ich sollte nun eine Entscheidung treffen. Und ich musste sie treffen, denn ich war am Morgen des 14. November 1977 ganz allein, allein auf weiter Flur.
Kurz nach zehn Uhr war es so weit. Angeführt von Professor Mennert, betraten die Ärzte mein Zimmer und stellten sich nacheinander bei mir vor: ein Anästhesist, ein Radiologe, ein Chirurg, ein Internist, ein Gastroenterologe, ein Urologe und Doktor Behringer.
»Nun?«, fragte mein Professor und sah mich erwartungsvoll an.
Für einen Moment stutzte ich, dann holte ich tief Luft, streckte meine Füße durch, streckte mein Knie, spannte meine Oberschenkel an, meinen Po und meinen Rücken, zog den Bauch ein, streckte die Brust heraus, presste meine Schultern herunter und hob mein Kinn, und dann, … dann … ich hatte genug Zeit gehabt, mir alles zu überlegen, ich hatte das Für und Wider durchdacht, die endgültige Entscheidung musste ich jetzt dem Gefühl dieses Augenblicks überlassen …
Es war still im Raum. Aller Augen ruhten auf mir, niemand sprach ein Wort. Ich sah, dass Daniela im Türrahmen lehnte, sah, dass Schwester Helma neben ihr stand, den Kugelschreiber im Anschlag, den Notizblock fest in der Hand … Ich ließ es einfach kommen … »Ich will die Operation!«
Ungewöhnlich ruhig und fest klang meine Stimme, und ich spürte sofort, dass ich es richtig gemacht hatte. Ich fühlte mich erleichtert. Mein Kinn fiel herunter, meine Schultern klappten hoch, meine Brust zog sich zurück, mein Bauch schoss vor, Rücken, Po und Oberschenkel machten sich wieder breit, meine Knie und meine Füße schnellten zurück in Normalstellung, und meine Lungen ließen die viele, viele Luft heraus … Ich spürte, dass ich mich richtig entschieden hatte. Doch Doktor Behringer schien da ganz anderer Meinung zu sein.
»Haben Sie sich das auch genau überlegt?«, brach er das allgemeine Schweigen. »Sind Sie sich des Risikos voll und ganz bewusst?«
Er wirkte äußerst nervös. Ich sah ihn an, blickte dann zu Daniela hinüber.
»Wissen Sie«, erklärte ich, »was ich habe, das weiß ich, und was ich bekomme, das kann kein Mensch vorhersagen. Aber was ich habe, ist eine halbe Sache, und ich mache keine halben Sachen. Und deshalb will ich die Operation, das heißt: Ich will die Taube … in der Hand!«
»Sie sind ein unmündiges Kind!«, fuhr Behringer mich daraufhin an. »Sie wissen ja gar nicht, wovon Sie reden!«
»Aber Herr Kollege!!!« Mennert bremste seinen ungestümen Stationsarzt mit dem gewohnten Charme, gegen den keiner ankam. Dann wandte er sich mir zu. »Sie haben sich entschieden, Eva, und wir haben Ihre Entscheidung zur Kenntnis genommen, das
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