Zwei Frauen: Roman (German Edition)
unvorbereitet, dass ich zu Daniela aufblickte, als hätte sie mich aus tiefem Schlaf geweckt.
»Hat sie dich geschlagen?«
»Nein!«
»Hat sie geschwiegen?«
»… Ja …« Ich war erstaunt, dass sie das besser wusste als ich. »Wie kommen Sie darauf?«
Daniela lächelte und hockte sich auf den Schreibtisch, ganz in meine Nähe.
»Welches andere Wort fällt dir ein, wenn du an Schweigen denkst?«
»Glas!«, antwortete ich spontan.
»Durchsichtig …?«
»Und zerbrechlich!«, fügte ich mit Nachdruck hinzu.
Sie sah mich ernst an. »Sag mir, Eva, was ist schlimmer als Glas?«
»Tod!«
Die Antworten sprudelten nur so aus mir heraus, hastig, unüberlegt. Als es geschehen war, schämte ich mich dafür und gab mir Mühe, das zu verbergen. Daniela spürte es trotzdem und warf mir eine Art Rettungsring zu.
»Erzähl mir von deiner Kindheit!«, sagte sie. »Von deiner Jugend!«
Das schien unverfänglich, und so ging ich freimütig darauf ein. Arglos und unverdrossen plapperte ich vor mich hin. Ich dachte mir nichts dabei. Meine Erinnerungen gehörten schließlich mir allein, und ich bildete mir ein, Daniela könnte sie mir weder wegnehmen noch sonst irgendetwas damit anfangen.
Daniela hörte mir zu, reagierte nur selten, unterbrach mich nie, aber nach etwa zwei Stunden glaubte sie, dennoch zu wissen, dass ich total verkorkst war. Und daran war meine Mutter schuld.
Mama hatte einfach alles verkehrt gemacht. Sie hatte mich vernachlässigt, gedemütigt, überfordert, unterfordert, unberechtigterweise gestraft oder gerügt – es gab nichts, was sie hätte entlasten können. Aber es gab ja gottlob die Gummimatte. Auf die sollte ich nun hemmungslos einschlagen und mir vorstellen, es wäre Mama. Dass ich mich dagegen sperrte, stimmte Daniela regelrecht verdrießlich. »Bei deinem Vater liegt natürlich auch so manche Verantwortung«, gab sie zu, »und vor allem bei deiner Ballettmeisterin. Ich finde aber trotzdem, um erst einmal anzufangen –«
»Nein!«
Meine Weigerung war eindeutig, und Daniela tat so, als gäbe sie sich geschlagen. Das war ein Trick. Ich wurde nämlich größenwahnsinnig. Wie manch legendärer Feldherr überschätzte ich den Wert einer gewonnenen Schlacht und ließ mich ein auf einen Krieg, dessen Ausmaße meine Vorstellungskraft übersteigen sollten.
»Bist du wenigstens bereit zu einer Gesprächstherapie?«, fragte Daniela voller List und Tücke.
»Natürlich!«
Für diese Überheblichkeit musste ich in den nachfolgenden Sitzungen büßen. Diese so genannte »Gesprächstherapie« war nämlich alles andere als harmlos. Daniela provozierte mich, wann immer es möglich war. Sie erging sich in Unterstellungen über meine Persönlichkeit, schleuderte mir diese als angebliche Erkenntnisse an den Kopf und wartete dann auf meine Reaktion. Die kam so sicher wie das Amen in der Kirche.
»Du lässt die Menschen nicht an dich heran, Eva!«
»Wer sich nicht auf andere einlässt, kann auch nicht enttäuscht werden!«
»Richtig! … Er kann aber auch nie etwas empfangen. Du bist verklemmt, Eva!«
»Das ist nicht wahr, ich gelte sogar als extrovertiert.«
»Du redest nur viel, ohne etwas zu sagen. Gefühle zeigst du nie.«
»Wer Gefühle zeigt, macht sich verletzbar.«
»Wer sagt das?«
»Meine Ballettmeisterin!«
»Und ich sage dir: Wer sich ehrlichen Herzens öffnet, kann nicht verletzt werden. – Du kannst ja nicht einmal richtig lächeln, Eva. Bei dir hat das immer so etwas von Licht aus – Spot an .«
»Das habe ich so gelernt, Fräulein Römer. Das habe ich jahrelang vor dem Spiegel geübt. Mein linker Schneidezahn steht nämlich etwas vor, und deshalb darf ich die Lippen nicht zu weit öffnen, sonst –«
»Vergiss dein Gebiss! Lächle doch mal von innen, aus dem Bauch heraus!«
»So ein Schwachsinn! Wenn es Ihnen gelingt, mit dem Bauch den Mund zu bewegen, klatsche ich Beifall. Mit den Nieren.«
»Weinst du manchmal?«
»Wenn es keiner sieht!«
»Warum nur dann! Was geschieht mit einem Kind, das weint?«
»Es wird getötet.«
»Du meinst: Getröstet?«
Ich war völlig konfus. Freudsche Versprecher unterliefen ja jedem mal, aber in dieser Größenordnung …?! Ich hatte Daniela damit schier unerschöpfliches Arbeitsmaterial geliefert, und sie begann, mein Leben aus ihrer Perspektive wie ein offenes Buch vor mir auszubreiten.
Das war mir unangenehm, und ich versuchte, mich zu wehren. Aber als ich gerade anfing, damit Erfolg zu haben, änderte sie ihren Kurs und wandte sich
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