Zwei Frauen: Roman (German Edition)
war also alles wie vor der grausigen Therapie. Nichts schien verändert. Auch der alte Kampfgeist kehrte zurück, und es dauerte nur wenige Tage, bis ich wieder ganz genau wusste, was ich wollte: tanzen. Gesund werden. Leben.
Das Einzige, was meine Euphorie trübte, waren die Besucher. Manche ergingen sich in den banalsten Allerwelts-Phrasen, andere versprühten eine in meinen Augen unverschämte Fröhlichkeit. Wieder andere, so etwa Karin Ortmann, eine Nachbarin von Claudia, nutzten die Besuche, um ihre eigene Gesundheit herauszustellen. Diese Karin Ortmann war dreißig Jahre alt, arbeitete in der Klinikverwaltung und pries ihre gesunde Lebensweise an: kein Alkohol, kein Nikotin, keine Männer. Meine Großmutter schließlich – schon neunzig Jahre alt, aber wohl erhalten – brachte Geld mit, um das Personal – Schwester Helma, Gertrud, die Putzfrauen, die Ärzte – mit »Bestechungsgeldern« zu ermuntern, mich besser zu pflegen. Meine Empörung darüber war grenzenlos, denn diese Bestechungsversuche hatte ich schon in meiner Kindheit abgrundtief gehasst. Meine Großmutter regelte alles mit Geld, immer und überall. Auf der ganzen Welt gab es keinen einzigen Menschen, dem sie etwas schuldig war, nicht einmal Dank. Schwester Gertrud kam überraschend herein.
»Klopfen Sie gefälligst an!«, wurde sie empfangen.
»Oh, ich wollte nur …«
Oma erblickte die eingevasten Nelken und brach in Entzücken aus. »Stellen Sie sie dahin!«, ordnete sie an und wies auf den Nachttisch. Kaum standen die Blumen da: »Nein, das wirkt so vulgär.«
Nach drei weiteren Standortwechseln fand die Vase auf dem Tisch ihre endgültige Position. Gertrud atmete sichtlich auf.
»Den Stuhl bitte!« Gertrud apportierte, und Oma nahm Platz.
»Kommen Sie her, mein Kind!« Gertrud parierte.
Oma drückte ihr einen Fünfzigmarkschein in die Hand. »So, meine Liebe, das ist für Sie!« Sie schob einen weiteren Fünfziger nach: »Und das ist für Ihre Kollegin!« Hernach meinte sie: »Und ich bitte mir aus, dass meine Enkelin äußerst zuvorkommend behandelt wird. Sie können jetzt gehen. Und denken Sie an den Kaffee und an das Gebäck!«
Gertrud schluckte, nickte und »entfernte sich«, und ich war wütend.
»Musste das sein?«, erkundigte ich mich hörbar ungehalten.
»War es zu wenig?«
Meine liebe Großmutter grinste und stellte endlich die peinliche Handtasche weg.
So verging die Zeit auf S 1. Meine Eltern kamen jeden Nachmittag, um zu behaupten, ich sähe schon sehr viel besser aus. Ich fühlte mich ja auch schon sehr viel besser, nur leider nahm ich kein einziges Gramm zu.
»Erst wenn Sie zugelegt haben, können wir an eine neuerliche Therapie denken«, sagte Mennert. »Sie müssen einfach zunehmen, Eva, Sie müssen!«
Ich sah das ein und tat, was ich konnte, aber mir schmeckte einfach nichts. Außerdem war ich viel zu schnell satt, es war eine Last. Claudia hatte dafür eine ungewöhnlich glaubhafte Erklärung.
»Wenn den Mond innen Merkur und de Sonne innen Jupiter steht, dann ham de Waagemenschen nie Appetit.«
»Bist du sicher?«, erkundigte ich mich.
»Klar. Wenn de dich auch sons auf nix verlassen kanns, Eva, die Sterne kannse trauen.«
Die Astrologie war Claudias neuestes Hobby, und so erfuhr ich im Laufe der Zeit alles über Krebse, Widder, Skorpione und anderes Getier. Mittels Tabellen, die für meine Augen unüberschaubar waren, wurden Aszendenten ermittelt, und arglose Planeten wie Jupiter, Venus oder Saturn wurden in geheimnisvolle Häuser verbannt, in denen sie dann angeblich dominierten. Mir war das alles ziemlich rätselhaft, aber Claudia behielt angeblich den Durchblick. Außerdem lenkte sie mich mit ihrem Gerede von meinen Träumen und Gedanken an die Rückkehr zum Ballett ab.
Endlich war es dann so weit, die Waage schlug aus, ich begann zuzunehmen. Überglücklich saß ich in meinem Bett und strahlte über das ganze Gesicht.
»Hab ich’s mir doch gedacht!«, frohlockte ich.
»Wat?«, wollte Claudia wissen.
»Solange diese Chemie im Körper war, konnte ich gar nicht zunehmen.«
»Wieso dat denn?«
Daraufhin teilte ich Claudia unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, was für mich längst feststand.
»Nicht der Krebs ist gefährlich, sondern die Chemotherapie!«
»Mmh?«
»Ja, ich werde mir ernsthaft überlegen, ob ich das noch mal mit mir machen lasse.«
Claudia starrte mich atemlos an. Sie wollte wohl etwas sagen, behielt es aber für sich und begnügte sich damit, mir einen formvollendeten
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