Zwei Herzen im Winter
redete, würde alles wieder in ihr aufbrechen, die grauenhaften Bilder ihrer Vergangenheit würden in unerträglicher Klarheit vor ihr stehen. Nein, sie wollte vergessen, wollte die Erinnerungen für immer in einen Abgrund werfen und begraben.
„Geoffrey erzählte mir von Eurer Verletzung.“ Seine Hand lag immer noch auf der ihren.
„Dazu hatte er kein Recht“, fauchte sie und entzog sich ihm. „Verflixt, ich wusste es. Ich spüre es an der Art, wie Ihr mich behandelt. Ich will Euer Mitleid nicht!“
Wutentbrannt fuhr sie herum und floh. Ihre wirbelnden Röcke entblößten ihre schlanken Beine in dicken Wollstrümpfen. Ihr blonder Zopf, der ihr unter dem Schleier über den Rücken hing, schwang hin und her.
Talvas hatte sie mit einem Satz eingeholt, nahm sie beim Arm und drehte sie zu sich um. Seine sehnigen Finger umfingen ihr herzförmiges Kinn und zwangen sie, den Kopf zu heben. Sein Blick wanderte über ihren Hals, wo ihr Puls unter zarter Haut regelrecht flatterte. Die Brust wurde ihm eng …Verlangen befeuerte sein Blut. Was zum Teufel war eigentlich mit ihm los? Er rühmte sich seiner strikten Selbstbeherrschung, wenn es um Frauen ging, eine Beherrschung, wie sie Mönchen und Priestern anstand, die er, ein Mann ohne den Halt der Gottesfurcht und des christlichen Glaubens, noch übertraf.
„Nein, Madame. Ihr irrt. Ich habe kein Mitleid mit Euch.“ In seiner dunklen Stimme schwang ein bedrohlicher Unterton. „Ich begehre Euch.“
Emmeline schlug die Augen auf. Der schwere Behang vor dem Holzverschlag im Bug schlug laut klatschend im Sturm. Der Regen prasselte gegen die Lederhaut, sprühte ihr ins Gesicht. Auf einer breiten Rosshaarmatratze ausgestreckt, wurde ihr plötzlich bewusst, dass ihre Füße tiefer lagen als ihr Kopf. Unter dem Vorwand, der Kaiserin Gesellschaft zu leisten, hatte sie sich zeitig in den Unterschlupf zurückgezogen. In Wahrheit aber hatte sie das dringende Bedürfnis, der knisternden Spannung zu entfliehen, die sich zwischen Talvas und ihr aufgebaut hatte. Bei Einbruch der Nacht hatten Maud und Emmeline sich in die Pelze gehüllt und sich schlafen gelegt. Emmeline genoss den Luxus der weichen Matratze, während die Kaiserin unentwegt über die Beschwernisse der Seereise klagte und stöhnte. Das Wetter war ruhig gewesen, ein kräftiger Wind brachte sie rasch der Küste Englands näher. Unterdessen aber hatte der Wind Sturmstärke angenommen und schleuderte das Schiff bedenklich hin und her.
„Emmeline!“, jammerte die Kaiserin, streckte tastend die Hand aus und klammerte sich an Emmelines Ärmel.
„Was plagt Euch?“ Sie versuchte, Mauds Gesicht im Dunkeln zu erkennen, und richtete sich auf.
„Mir dreht sich der Magen um“, stöhnte Maud. „Ich fühle mich furchtbar elend.“
„Lasst mich Eure Stirn befühlen.“ Emmeline legte der Kaiserin die Hand an die heiße Stirn und erschrak. „Ihr habt Fieber, Mylady. Ich hole Wasser und ein feuchtes Tuch, um Euch Linderung zu verschaffen.“
Sie zog sich den Umhang enger um die Schultern, tastete nach der erloschenen Fackel, um sie am Kohlebecken an Deck zu entzünden, das während der gesamten Überfahrt brennen sollte. Sie hatte Mühe, die schwere durchnässte Lederhaut beiseite zu schieben, und kroch schließlich auf allen vieren durch die Öffnung.
Der Regen prasselte auf sie herunter, der Wind peitschte ihr die Tropfen wie Nadelstiche ins Gesicht. Ihre schläfrige Benommenheit wich im Nu einem kämpferischen Überlebenstrieb. Sie suchte mit dem Rücken Halt an der hohen Bootswand, um auf die Füße zu kommen, zog sich am Handlauf hoch, während das Schiff im hohen Wellengang hin und her schlingerte. Sie blinzelte in den peitschenden Regen … und schrie vor Schreck auf.
Die Fackel entglitt ihren Fingern. Auf dem Deck verstreut lagen reglose Menschen!
Fieberhaft überlegte sie, was passiert sein mochte. Kriechend näherte sie sich der ersten leblosen Gestalt und stellte fest, dass die Seeleute krank waren, sich vor Schmerzen krümmten und stöhnten. Was in Gottes Namen war geschehen? Sie hob den Kopf, ihr verzweifelter Blick suchte den Steuermann. Das Schiff wäre dem sicheren Untergang geweiht, wenn es in dieser stürmischen See richtungslos treiben würde.
Dort stand er. Gottlob!
Seine breite Gestalt zeichnete sich als mächtiger Schatten vor dem wolkenverhangenen Nachthimmel ab. Talvas hielt die schwere Ruderpinne mit beiden Händen fest, stemmte sich dagegen, um zu verhindern, dass das Schiff zu stark
Weitere Kostenlose Bücher