Zwei Herzen im Winter
hatte es geschafft. Nun galt es nur noch, nach unten zu klettern.
Erst jetzt spürte sie die Kälte des prasselnden Regens, des schneidenden Windes, die ihr bis in die Knochen drang. Das Deck schien unendlich weit unter ihr zu liegen. Der nasse Stoff ihres Unterkleids schlug gegen ihre Schenkel, klebte an ihren Beinen und behinderte ihren Abstieg. Verbissen klammerte sie sich an die nasse, hin und her schwingende Strickleiter, während das Schiff unter ihr heftig schwankte. Der Aufstieg war ihr weit weniger mühsam erschienen. Ihr Fuß tastete nach der nächsten Sprosse, als ihr das nasse Tau durch die steifen Finger rutschte … „Vorsicht!“ Den Warnruf von unten hörte sie nicht, als sie sich verzweifelt festklammerte. Die Leine brannte heiß in ihren Handflächen, aber sie fand keinen Halt mehr. Im gleichen Moment legte sich das Schiff gefährlich zur Seite. Mit einem spitzen Schrei und wild um sich schlagenden Armen und Beinen stürzte sie ins Nichts.
„Ich hab dich!“ Eine vertraute Stimme krächzte an ihrem Ohr, als sie gegen einen Muskelberg prallte und von kraftvollen Armen aufgefangen wurde. Dann spürte sie die Deckplanken unter ihren nackten Füßen und seufzte erleichtert auf. Durch den nassen Stoff spürte sie die Hitze, die Talvas entströmte.
„Hier“, murmelte er und legte ihr seinen Umhang um die Schultern. „Der ist zwar auch nass, aber vielleicht wärmt er Euch.“ Unter dem schweren Stoff schwankte sie ein wenig, fühlte sich aber geborgen.
„Danke, Mylord.“
„Nein, ich danke Euch, Emmeline.“ Er hob ihr Kinn mit einem Finger und blickte ihr mit unverhohlener Bewunderung in die Augen. „Ihr habt Erstaunliches geleistet. Seht, wir haben wieder volle Fahrt aufgenommen. Ich kenne keine Frau, die diese mutige Tat vollbracht hätte.“
„Ich bin mit der See aufgewachsen“, entgegnete Emmeline achselzuckend. „Das war für mich keine große Sache.“ Sie versuchte, die Muskelschmerzen in Rücken und Schultern nicht zu beachten.
Talvas verspürte große Achtung vor dieser zierlichen Frau, die sich weigerte, sich ihre Erschöpfung anmerken zu lassen. Der offene Umhang gewährte ihm einen Blick auf ihren Busen, der sich unter dem nassen Unterkleid abzeichnete. Ihre Schönheit zog ihn unwiderstehlich in ihren Bann. Er neigte den Kopf, in der Absicht, ihr einen unschuldigen Kuss auf den Mund zu drücken – nur eine keusche flüchtige Berührung. Als sein Mund ihre vollen warmen Lippen streifte, flammte sein Verlangen auf. Stöhnend schlang er die Arme um sie, zog sie an sich und kostete gierig von ihr. Emmeline sank an seine Brust, ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie war ein einziges schmelzendes Fließen, während sie sich an seine breite Brust schmiegte. Seine Hand, die ihren Rücken entlangstrich und sie enger an ihn presste, entfachte ein brennendes Sehnen ihr. Ein mächtiger Strudel erfasste sie, der jede Willenskraft in ihr auslöschte. Seine Lippen waren wie eine geheime Verheißung, sie in ein Paradies zu entführen – an einen Ort der Erfüllung süßer Träume und Wünsche, an einen Ort voller Gefahren.
Der Kuss vertiefte sich, wuchs zu einer berauschenden Macht, der beide hilflos ausgeliefert waren. Sie klammerten sich aneinander, zwei Menschen, hilflos verstrickt im Bann ihrer Leidenschaft, die alles um sich vergessen hatten. Im nächsten Augenblick brach eine gewaltige Wasserwand über das Schiff herein.
9. KAPITEL
Auf dem hellen Küstenstreifen der lang gezogenen Bucht lagen die Wrackteile der Belle Saumur verstreut. Zersplitterte Schiffsplanken, aus ihren Bolzen gerissen, schaukelten in der schäumenden Brandung. Im Morgengrauen hatte ein Nachtwächter im Hafen die Dorfbewohner alarmiert, die schlaftrunken aus ihren Häusern rannten, um zu helfen, das leckgeschlagene Schiff an Land zu ziehen. Nun drang die Sonne gelegentlich durch die Nebelschwaden und beleuchtete das Bild der Verwüstung: den aufgerissenen Schiffsrumpf, die frierende Mannschaft in Decken gewickelt, entweder schlafend oder leise miteinander redend.
Emmeline kauerte auf dem steinigen Strand, die Arme um ihre angezogenen Knie geschlungen. Durch eine gnädige Schicksalsfügung war die Belle Saumur der Küste Englands näher als vermutet, als die riesigen Brecher über dem Deck zusammengeschlagen waren. Der Sturm und die starke Strömung hatten das Schiff landwärts getrieben, bis der Bug von vorgelagerten Felsbrocken aufgerissen wurde und es auf Grund lief. Gottlob konnten alle Menschen an Bord
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