Zwei Herzen im Winter
Angebot klang verlockend, brachte ihren Entschluss ins Wanken. Seine tiefe einschmeichelnde Stimme entfachte erneut dieses befremdliche Sehnen in ihr. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart ganz und gar nicht sicher. „Könnt Ihr mich auf dem Weg an der Burg meiner Schwester absetzen?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Nein, das wäre ein Umweg. Ich darf keine Zeit verlieren. Sobald wir Winchester erreichen, kann ich Euch eine Eskorte stellen.“ Draußen ertönte der Ruf einer Eule, einmal, zweimal. Talvas sprang so heftig auf, dass sie nach hinten getaumelt wäre, hätte er sie nicht an den Schultern gehalten. „Das ist Guillames Zeichen. Kommt Ihr mit uns oder nicht?“
„Einverstanden.“
„Braves Mädchen.“ Mit einem Satz war er am Fenster und schwang ein Bein über die Brüstung. „Wir müssen fort“, gab er ihr eindrücklich zu verstehen. „Ich lasse Euch hinunter, und Guillame fängt Euch auf. Es ist nicht sehr hoch.“
Sie legte sich den Umhang um die Schultern und zog unschlüssig die Stirn kraus. „Beeilt Euch, Emmeline“, drängte er. „Wieso dieses Zaudern? Eine Frau, die in sturmgepeitschter See einen Mast hinaufklettert, wird doch keine Höhenangst haben, oder?“
Nein, ich habe keine Höhenangst, dachte sie, aber ich habe Angst vor dir. Sie wischte ihre Bedenken weg, setzte sich auf das Fenstersims und schwang die Beine nach draußen. Vom Burghof herauf hörte sie das leise Klirren der Pferdegeschirre. Talvas nahm sie bei den Händen. „Lasst Euch hinunter!“ Sie rutschte nach vorne und ließ sich an der Mauer nach unten fallen. Hilflos hing sie zwischen Himmel und Erde, nur von Talvas’ starken Händen gehalten, ihre Arme und Schultern schmerzten von dem starken Zug.
„Guillame, fang sie auf“, flüsterte Talvas und ließ sie los. Ein Angstschrei blieb ihr in der Kehle stecken, doch schon landete sie sicher in Guillames Armen.
„Gut gemacht, Madame“, lobte Guillame anerkennend, hob sie in den Sattel eines Pferdes und schwang sich auf das zweite Pferd. „Los!“
„Aber Lord Talvas …? Sie drehte sich um, blickte nach oben und sah gerade noch, wie er sich mit wehendem Umhang abstieß und direkt in den Sattel des dritten Pferdes sprang. Mit festem Schenkeldruck wendete er das Tier und nahm die Zügel auf.
„Wir haben es eilig“, flüsterte er.
Aus dem Inneren der Burg wurden Stimmen laut. War Talvas’ Flucht bereits entdeckt worden? Emmeline drückte die Fersen in die Flanken des Wallachs und ritt hinter dem Schatten von Talvas’ Pferd in die Nebelschwaden der Nacht. Die drei Reiter folgten einem morastigen Pfad, der sich durch hohes Schilf im Marschland schlängelte. Rechts von sich hörte Emmeline das Gurgeln von Wasser und vermutete, dass sie am Flussufer nach Norden ritten. Der Vollmond stand zwar hell am Himmel, aber der Nebel waberte in immer dichteren Schwaden, die ihr feuchtkalt ins Gesicht schlugen.
„Wir müssen absitzen“, rief Talvas plötzlich nach hinten. Sein scharfer Ton erschreckte sie. Ihre Finger um die Zügel waren taub geworden. War sie eingeschlafen? Der Nebel war mittlerweile so dicht geworden, dass sie die Hand vor Augen nicht mehr sah. Sie hob ein Bein über den Sattel und glitt unbeholfen zu Boden. Vor Kälte steif geworden, setzte sie sich mit unsicheren Schritten in Bewegung.
„Schneller, Madame“, drängte Guillame hinter ihr, „sonst verlieren wir Lord Talvas aus den Augen. Nur er kennt den Weg durch den Sumpf.“ Emmeline schlang sich die Zügel um die klammen Finger und drängte den Wallach vorwärts. Noch konnte sie den schlagenden Schweif von Talvas’ Hengst vor sich erkennen. Ihr verletztes Bein schmerzte höllisch, aber sie stapfte verbissen voran, obwohl es ihr immer schwerer fiel, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der wabernde Nebel hüllte sie ein wie ein Leichentuch.
Und dann hörte sie das Kläffen der Hunde. Talvas hörte es gleichfalls, hielt einen Moment inne und beschleunigte seine Schritte. Nein, wollte sie ihm hinterherrufen, langsamer, ich schaffe es nicht, fürchtete aber, die Verfolger könnten sie hören.
„Guillame, geht voran“,flüsterte sie und blieb stehen.„Die Männer sind hinter Euch her, nicht hinter mir. Beeilt Euch und sagt Talvas, ich komme nach.“ Sie lächelte aufmunternd in Guillames zweifelndes Gesicht. Sie wollte um keinen Preis riskieren, dass die beiden Männer den Häschern der Kaiserin in die Hände fielen, nur weil sie nicht mithalten konnte. Schließlich nickte Guillame zögernd
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