Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwei Herzen im Winter

Zwei Herzen im Winter

Titel: Zwei Herzen im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: MERIEL FULLER
Vom Netzwerk:
nicht vom Funkenflug getroffen zu werden. Hatte Sylvie vielleicht bei Freunden im Dorf Unterschlupf gesucht? Emmeline stieg die breiten, flachen Steinstufen hinab, die von der Burg zu den Ruinen der Ortschaft führten. Unten angelangt, führte eine Holzbrücke über den tiefen Burggraben. Seltsamerweise fühlte Lord Edgar sich offenbar vor Feinden so sicher, dass er auf Zugbrücke und Fallgitter verzichten konnte.
    Vorsichtig überquerte sie die Brücke, auf der die Feuchtigkeit gefroren war. Die Kälte kroch ihr die Beine herauf, fast wäre sie auf ihren Ledersohlen ausgerutscht. Beinahe am Ende der Brücke angelangt, stutzte sie. Etwas war ihr aufgefallen. Sie ging langsam bis zur Mitte der Brücke zurück und sah im flackernden Schein der spuckenden Fackel einen blauen Stofffetzen, der sich im Holzgeländer verfangen hatte.
    Emmeline ging in die Knie und versuchte den Fetzen zu lösen, der ihr bestätigte, dass Sylvie hier war. Als sie die Hand zwischen die Streben zwängte, um nach dem blauen Stoff zu greifen, befiel sie ein beängstigender Gedanke. Der Stoff hing an der Außenseite des Brückengeländers.
    Heilige Mutter Gottes! Sie starrte auf den Fetzen, der im Wind flatterte. Die Knie wurden ihr weich, sie begann zu zittern. „Nein, lieber Gott, nein!“ Die Worte kamen ihr ungebeten über die Lippen. Sie zog sich wankend am Geländer hoch, umklammerte den Querbalken und beugte sich vor. Übelkeit stieg in ihr auf, als sie in das gurgelnde schwarze Wasser tief unter ihr blickte.
    Sylvie lag mit dem Gesicht nach oben im Burggraben, ihr blondes Haar war wie ein Fächer im Wasser ausgebreitet, das blaue Gewand blähte sich wie ein Kissen um ihre magere Gestalt.
    „Hilfe!“, schrie Emmeline gellend, von Entsetzen gepackt. „Zu Hilfe! Zu Hilfe!“ Ihre Stimme überschlug sich und hallte gespenstisch durch die Nacht. Die Fackel entglitt ihren klammen Fingern und fiel zischend zu Boden. Doch auf einmal kam Leben in sie, sie rannte ans Ende der Brücke, hielt Ausschau nach einem Pfad, der sie hinunter zu Sylvie führte. Todesmutig stolperte sie den steilen Abhang hinunter und hielt sich an hohen Büscheln welken Grases fest, um nicht in die Tiefe zu stürzen.
    „Halt, Emmeline, halt!“
    Plötzlich war Talvas an ihrer Seite, packte sie am Arm und zog sie nach oben in Sicherheit. Dann rief er den Wachen im Torhaus Befehle zu und schlitterte den steilen Hang hinunter. Er kauerte sich an das schmale Ufer, hielt sich an Gestrüpp fest, beugte sich weit über das tiefe Wasser, erwischte den Saum von Sylvies Gewand und zog sie ans Ufer.
    Von Grauen gepackt, rutschte auch Emmeline den Hang hinunter, in ihrer verzweifelten Hast, Sylvie zu erreichen. Blinder Zorn erfasste sie, als Talvas’ Hände sich in die Kleider der Toten krallten, um sie aufs Trockene zu zerren. Tränen sprangen ihr aus den Augen, schluchzend hämmerte sie mit Fäusten auf seinen Rücken ein.
    Talvas drehte sich erschrocken zu ihr um. „Lass das, Emmeline! Nimm Vernunft an!“, keuchte er.
    „Nimm deine Hände von ihr!“, kreischte sie. „Tu ihr nicht weh!“
    Aber er hatte Sylvie bereits in seine Arme gehoben. Ihr Kopf mit dem nassen Haar hing nach hinten, ihre dünnen Arme baumelten an ihr wie die einer Stoffpuppe. Ihr Gesicht war aschgrau. Auf der Brücke hatten sich Soldaten versammelt, hielten Fackeln hoch und beleuchteten die unheimliche Szene.
    „Es tut mir leid, Emmeline, sie ist tot“, sagte Talvas leise.
    Emmeline krallte sich an seinem Arm fest. „Sie hat mir nicht geglaubt, Talvas! Sie hat nicht geglaubt, dass ich sie beschütze.“ Heiße Tränen rollten ihr übers Gesicht. „Sie hat mir nicht geglaubt!“
    Talvas stand reglos da, als wäre er aus Stein. „Es ist nicht deine Schuld, Emmeline. Sie wollte sich das Leben nehmen.“
    „Es ist meine Schuld! Unsere Schuld!“ Ihr Atem ging stoßweise, sie hatte das Gefühl, das Herz werde ihr aus der Brust gerissen.
    „Beruhige dich, chérie !“
    „Mich beruhigen!“, schrie sie gellend. „Ich soll mich beruhigen? Sie ist meine Schwester, meine einzige Schwester!“ Mit irrem Blick schüttelte sie unentwegt den Kopf. In ihrer Hilflosigkeit kauerte sie sich ins Gras und starrte blind ins Leere. „Mein Gott, Talvas, ich habe sie verraten. Das werde ich mir niemals verzeihen.“

15. KAPITEL
    Talvas blickte prüfend in Emmelines kalkweißes Gesicht – unter ihren schönen grünen Augen lagen dunkle Schatten, ihre Schultern waren mutlos nach vorne gesackt. Sie ritt neben ihm, ihr

Weitere Kostenlose Bücher