Zwei Herzen im Winter
zuzulassen, dass du ohne mich einen Schritt aus dieser Burg tust. Fühlst du dich stark genug für einen längeren Ausritt?“
„So stark wie nie zuvor.“
Sedroc Castle thronte hoch auf einem Felsen über einer weiten Talmulde mit fruchtbaren Äckern und Weiden, die in der Ferne in die Salzwiesen des Marschlandes übergingen. Die hohen Türme und zinnenbewehrten Mauern glänzten im Sonnenlicht, das gelegentlich durch die rasch dahintreibenden Wolken brach. Umgeben von einem tiefen Burggraben, war die Festung nur an einer Stelle über Zugbrücke und Fallgitter zugänglich. Direkt unter dem Zugang lag das streng bewachte Feldlager von Stephens Soldaten. Den fleckigen runden und einstmals weißen Zelten war anzusehen, wie oft Stephens Armee in kriegerischen Auseinandersetzungen durchs Land zog. Die Soldaten hatten Übung darin, das Feldlager in wenigen Stunden auf- und abzubauen. Auf den spitzen Dächern der etwa zwanzig Zelte, die jeweils zehn Soldaten Unterkunft boten, wehte das scharlachrote Banner des Königs, der fest entschlossen war, sich Maud nicht durch die Finger schlüpfen zu lassen. Von mehreren Feuerstellen stiegen Rauchsäulen in die Luft, ein würziger, verführerischer Geruch nach gebratenem Fleisch hing über dem Lager. Die Soldaten scharten sich um die Feuer, um ihren Hunger zu stillen.
Talvas hielt den Blick geistesabwesend auf seine vom Morgentau durchnässten schweren Stiefel gerichtet. Er saß auf einem Hocker vor dem Zelt, das er mit Stephen und Guillame teilte, tauchte seinen Zinnbecher in das Holzgefäß mit Met neben sich und trank in tiefen Schlucken. Diese Belagerung zog sich entschieden zu lange hin. Die Soldaten zeigten bereits Anzeichen von Erschöpfung, einige lagen mit Fieber und quälendem Husten auf ihren Pritschen. Sein abwesender Blick nahm einen Herold wahr, in Kettenhemd und Wappenrock in den Farben von Kaiserin Maud, der sich König Stephen am Lagerfeuer näherte. Vielleicht ist es endlich vorbei, dachte Talvas. Vielleicht brachte der Bursche die Botschaft von Maud, dass sie den Wunsch habe, friedlich abzuziehen und ihrem Cousin Stephen den Thron zu überlassen.
Stephen hörte aufmerksam zu, als der Herold den Inhalt des Pergaments laut vorlas. Dann lachte er auf und schüttete den Met in seinem Becher ins Feuer. „Meine Antwort ist nein!“, rief er und schüttelte heftig den Kopf, als er den Boten mitten im Satz unterbrach. Der Knappe erschrak, verneigte sich und machte sich eilig auf den Rückzug. Stephen näherte sich Talvas.
„Sie weigert sich zu kapitulieren, das störrische Weib!“, knurrte der König erbittert. „Aber ich wette, bald wird die Nahrung dort oben knapp. Durch unsere Belagerung gelangen seit Wochen keine Vorräte mehr in die Burg.“
„Wer weiß, wie gefüllt ihre Vorratskeller sind, und sie haben genügend Wasser“, überlegte Talvas. „Wenn es uns gelänge, den Brunnen auszutrocknen, wäre die Belagerung binnen weniger Tage vorbei.“ Bei aller Bereitschaft, Stephen in seinem Kampf zu unterstützen, war er nur mit halbem Herzen bei der Sache. Seine Gedanken waren in Hawkeshayne. Er wollte zurück … zu Emmeline. Die bitteren Worte ihrer letzten Auseinandersetzung hallten ständig in ihm nach. Er war wütend auf sie gewesen. Ihr Eigensinn, ihre ständige Zurückweisung hatten ihn erzürnt und tief gekränkt. Und außerdem bezweifelte er, dass seine Schwester, so willensstark sie auch sein mochte, in der Lage war, die störrische Emmeline auf Dauer in Schach zu halten. Er streckte die Beine von sich und verzog das Gesicht, da die Wunde in seinem Schenkel zu schmerzen begann.
„Wie geht es dir?“, fragte Stephen stirnrunzelnd. „Blutet die Wunde wieder?“
„Nein, ich glaube nicht. Guillame hat mich gut verbunden. Es ist ja nur ein Kratzer.“ Damit wischte er Stephens Besorgnis beiseite. Es war seine eigene Schuld, dass ein feindlicher Pfeil von den Zinnen des Wehrgangs der Burg sich in seinen Schenkel gebohrt hatte. Er war in Gedanken ganz woanders gewesen, hatte davon geträumt, Emmelines seidige Haut zu streicheln. Er hatte sie seit Wochen nicht gesehen, aber ihr Bild stand ihm deutlich vor Augen. Wenn er nachts schlaflos auf seiner Pritsche lag, sehnte er sich danach, sie zu liebkosen;, tagsüber vermisste er ihre spitze Zunge und ihre Schlagfertigkeit. Und wenn er versuchte, sie aus seinen Gedanken zu verbannen, kehrte die Erinnerung an sie verstärkt zurück und quälte ihn umso mehr.
Ein Warnruf hallte durchs Lager. Beide Männer
Weitere Kostenlose Bücher