Zwei Toechter auf Pump
einer Weile steuert mit singenden Schwingen ein Schwanenpaar über die Wipfel, wahrscheinlich auf dem Wege zum Nachbarsee.
Ein Knacken in der Schonung! Sofort versteinern meine Muskeln. Mit den Zähnen reiße ich den Handschuh von den Fingern, klappe den Lichtmesser auf, kontrolliere noch Belichtung und Blende — da bewegt sich ein Schatten in Richtung auf die Raufe. Ein Böckchen! Deutlich sehe ich die beiden Hörner. Zwei Ricken dahinter. Wenn sie jetzt auf die Lichtung treten, habe ich sie! Und sie kommen, zuerst das Böckchen. Die Ricken stecken schon hinter ihm die Köpfe durch den Tannenbehang, als der Bock die Lauscher hochstellt. Und dann höre ich es auch: Gesang! Ausgerechnet! Mein Finger drückt den Auslöser. Wenigstens das Böckchen habe ich erwischt. Da macht er auch schon auf der Hinterhand kehrt, und das Trio stiebt durch die Bäume davon. Noch ein paarmal sehe ich ihre weißen Blumen aufleuchten, dann sind sie weg. Himmel-Herrgott-Flitzebogen — daß diese verdammten Schweißfuß-Indianer das Grölen nicht lassen können!
Ich will schon von der Kanzel klettern und grob werden, als die Spitze des Vereins auf die Lichtung tritt. Und wer führt sie an? Karl-Friedrich mit seinen vorstehenden Zähnen und einem Wimpel in der Hand. Das ist also der Stock, den ich vorhin gesehen habe. Und auch Thomas ist dabei, und ungefähr fünfundzwanzig kleinere Mädels und Buben und ganz zuletzt Sophie, die Augen auf den Boden gesenkt und ein Manuskript unter dem Arm!
Ja, da schau her! Ich ziehe mich tiefer hinter die Tarnung des Hochsitzes zurück. Der Augenblick zum Auftauchen scheint mir ungeeignet. Karl-Friedrich stößt den Wimpel in den Schnee, die anderen treten im Halbkreis um ihn herum.
Karl-Friedrich sagt: »Liebe Brüder und Schwestern, an diesem schönen Frühlingstag wollen wir dessen gedenken, der...« Und dann hält er eine kleine Predigt, an deren Schluß er heftig niesen muß. »Wir wollen unsere Andacht«, so endet er, »nicht zu lange ausdehnen, unsere Schwester Sophie hat das Wort.« Und plötzlich in treuherzigen Dialekt fallend: »Du machst a net z’lang, gell, Sopherl?«
Sophie sieht ihn über ihre Brille hinweg an: »Ich werde mich auf das Wesentliche beschränken, Bruder Karl-Friedrich. Immerhin bleibt einiges zu sagen.« Und sie sagt das Einige eine gute Viertelstunde lang. Ich wage mich nicht zu rühren, obwohl mir allmählich die Füße kalt werden und es anfängt, in den Mandeln zu pieken. Trotzdem bleibe ich hocken. Nach der ersten Verblüffung hat mich ein brennendes Interesse an diesem kleinen Verein gepackt. Ich betrachte die ernsten und hingegebenen Gesichter. Nur zwei oder drei von den älteren scheinen sich nicht ganz wohl zu fühlen, gucken die übrigen an und grinsen ab und zu. Die halb verschneite Lichtung, der blaßblaue Himmel, die feierlichen dunkelgrünen Wände der Tannen und die kleine Schar hier um den Wimpel, der sich leicht im Frühlingswind bewegt — eine ganz neue Facette dieser Jugend ist da aufgeleuchtet, und ich muß daran denken, wie ich neulich beim Kramen ein kleines Heftchen gefunden habe, das ich mit zehn Jahren vollgeschrieben hatte und das den Titel trägt >Meine Weltanschauung<. Es ist eben nicht alles Jazz und Motorrad und Auto und Flugzeug und Fußball, es gibt auch dies hier.
Ich schrecke wieder auf, sie fangen erneut an zu singen. Diesmal ärgert es mich nicht. Ich ziehe die Decke fester um die Schultern und rede mir ein, daß die Feuchtigkeit in meinen Augen ein Vorbote des Schnupfens sei.
Als der Gesang beendet ist, gehen sie schweigend weg, zuletzt Sophie und Karl-Friedrich.
Mit steifen Gliedern klettere ich von der Kanzel, verstaue mein Fotogerät und mache dann einen Dauerlauf nach Haus, damit ich wieder warm werde. Der Dauerlauf reicht aber nur über hundert Meter, dann muß ich in Schritt fallen. Die Sonne ist jetzt hell heraus, der See in der Tiefe und die Ufer jenseits wirken, als seien sie eben erst erschaffen worden. Das Erlebnis geht mit mir wie ein Schein, der heller ist als die Sonne. Ich sehe die Jugend jetzt, wie sie wirklich ist, als unendliche Vielfalt, in der einfach alles enthalten ist und in der meine Mädels mit ihren Stifteköppen, in der diese ganze unruhige >Blase< nur ein Bläschen ist, ein ganz kleines Bläschen, das unter dem Anhauch des Lebens schnell zerplatzen wird. Soll ich es wünschen — dieses schnelle Zerplatzen? Immerhin spiegeln sich Himmel und Erde auch in diesem Bläschen.
Daheim finde ich zwei Briefe,
Weitere Kostenlose Bücher