Zwergenfluch: Roman
hinwegkommen musste. Barlok fragte sich, ob es vielleicht besser gewesen wäre, ihr die Konsequenzen einer Niederlage schonender vor Augen zu führen. Aber hier ging es um das Schicksal ihres ganzen Volkes, das konnte er gar nicht drastisch genug verdeutlichen.
Diese Lektion hatte Tharlia so tief getroffen, dass sie sie hoffentlich niemals mehr vergessen würde.
Bald darauf erreichten sie das Ostviertel. Die Gardisten führten sie zu einer schmalen Nische zwischen zwei kleinen, in der untersten Ebene direkt an die Felswand gebauten Häusern, wo weitere Männer der Stadtgarde mit Laternen warteten. Zwei mit Tüchern bedeckte Leichen lagen auf dem Boden. Ein Offizier trat auf die Neuankömmlinge zu und verbeugte sich.
»Majestät, ich habe nicht damit gerechnet, dass Ihr persönlich kommen würdet. Bitte nehmt meine untertänigen -«
Unwirsch winkte Tharlia ab.
»Spart Euch den Firlefanz. Wieso wurden die Toten nicht schon früher gefunden?«
Der Offizier deutete auf die schmale, dunkle Nische.
»Sie lagen dort in der hintersten Ecke und waren mit allerlei Unrat bedeckt, sodass sie erst bei gründlicher Suche aufgespürt werden konnten. Wir haben sie gerade erst herausgeholt.«
»Und warum konnten sie noch nicht identifiziert werden? Euer Bote berichtete, dass sie schrecklich zugerichtet wären.« Tharlia warf einen Blick auf die Tücher, unter denen sich die Umrisse der Leichen abzeichneten. Zumindest oberflächlich waren keine größeren Verstümmelungen zu erkennen. »Zeigt sie mir!«
»Es ist … ein ziemlich schlimmer Anblick«, erklärte der Offizier. »Ihr solltet Euch das nicht -«
»Ich weiß schon, was ich mir zumuten kann«, fiel Tharlia ihm kühl ins Wort. Sie trat auf einen der Toten zu und zog eigenhändig das Tuch zurück.
Trotz der Warnung erschrak sie; keine Worte hatten sie auf das vorbereiten können, was unter den Tüchern wartete.
Der Leichnam war keineswegs durch Waffengewalt verstümmelt, wie sie befürchtet hatten, sondern er war unglaublich gealtert , als wäre er mumifiziert. Wie dürres Pergament spannte sich die Haut über den Knochen, war an manchen Stellen sogar brüchig geworden und eingerissen, sodass die nackten Knochen sichtbar waren und der Kopf fast wie ein Totenschädel aussah, der Tharlia und Barlok aus leeren Augenhöhlen anzustarren schien.
»Das … Das ist doch nicht möglich!«, stieß die Königin hervor.
Auch Barlok war von dem Anblick geschockt, erholte sich aber rascher wieder davon. Er trat neben Tharlia, nahm ihr das Tuch aus den Händen und breitete es wieder über den mumifizierten Leichnam.
»Ich verlange, dass über diesen Vorfall strengstes Stillschweigen bewahrt wird«, wandte er sich an den Offizier. »Instruiert Eure Männer entsprechend. Ich möchte nicht, dass irgendwelche Gerüchte über den Zustand der Leichen die Runde machen und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen.«
»Aber was ist den Unglückseligen denn überhaupt zugestoßen? So etwas habe ich noch nie erlebt.«
»Ich weiß es auch nicht. Vielleicht ein magischer Angriff«, erwiderte Barlok, obwohl er einen weitaus schrecklicheren Verdacht hatte. »Jedenfalls darf niemand etwas hiervon erfahren. Lasst die Toten unverzüglich einäschern. Die Urnen könnt Ihr dann für eine offizielle Beisetzung den Angehörigen aushändigen.«
»Das werde ich persönlich übernehmen«, erklärte Tharlia. »Lasst die Urnen zum Palast bringen, dann werde ich sie den Familien übergeben.«
Barloks Achtung vor ihr stieg. Dass sie eine so unangenehme
Pflicht selbst übernehmen wollte, nötigte ihm Respekt ab. Burian wäre dazu niemals bereit gewesen.
»Kommt, Majestät, wir müssen zurück. Es warten noch viele Aufgaben auf uns«, drängte er.
Tharlia nickte stumm und ließ sich von ihm bereitwillig wegführen. Noch immer zeichnete sich Schrecken auf ihrem Gesicht ab.
»Glaubst du wirklich, dass es sich um einen magischen Angriff handelte?«, fragte sie, als sie sich außer Hörweite der Gardisten befanden. »Bei allen Kämpfen haben sich die Dunkelelben bislang nur auf ihre Waffen verlassen. Warum diesmal ein anderes Vorgehen?«
»Was ich gesagt habe, galt nur den Gardisten. Ich glaube nicht, dass der Zustand der Leichen die Folge eines Angriffs war«, entgegnete Barlok. »Sie sehen aus, als wären sie binnen kürzester Zeit um Jahrzehnte gealtert. Als hätte jemand all ihre Lebenskraft schlagartig aus ihnen herausgerissen.«
»Der Dunkelelb«, murmelte Tharlia und starrte ihn mit großen
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