Zwielicht
bringen, daß es nicht nach Bestechung aussieht. Um die Illusion aufrechterhalten zu können, daß es sich nur um Geschenke eines Freundes handelt — schließlich sind die korrupten Beamten sehr darauf bedacht, daß ihre Selbstachtung und Würde nicht angetastet wird —, muß sich der ›Flickschneider‹ alle möglichen Einzelheiten über die Polizeichefs, Sheriffs, Bürgermeister und sonstigen Personen merken, mit denen er es Jahr für Jahr zu tun hat. Er muß die besonderen Vorlieben ihrer Frauen genauso im Kopf haben wie die Namen ihrer Kinder. Er muß interessiert wirken und sich den Anschein geben, als freute er sich, sie wiederzusehen. Gleichzeitig darf er aber nie allzu freundschaftlich auftreten, denn schließlich ist er ja nur ein Schausteller und somit in den Augen vieler Normalbürger so etwas wie ein Untermensch. Manchmal muß er auch hart sein und unverschämte Förderungen diplomatisch ablehnen können. Kurz gesagt, er muß ständig einen Hochseilakt ohne Netz vollführen, über einer Grube voll hungriger Bären und Löwen.
Während der Fahrt unterhielt Jelly Luke Bendingo und mich mit einem unerschöpflichen Vorrat an Witzen, Limericks, Wortspielen und Anekdoten aus dem Leben der Fahrensleute, und er hatte daran sichtlich selbst einen Riesenspaß. Ich begriff bald, daß dieser Zeitvertreib ihm die Spielsachen ersetzte, die überall in seinem Büro herumstanden. Obwohl er ein sehr fähiger Generaldirektor des Millionenunternehmens und ein gewiefter ›Flickschneider‹ war, hatte er sich doch in mancher Hinsicht ein kindliches Gemüt bewahrt. Unter den dicken Fettschichten hatte — allen schlechten Erfahrungen aus 45 Jahren zum Trotz — ein glückliches Kind überlebt, das die Welt als Wunder betrachtete.
Ich versuchte mich zu entspannen, und es gelang mir auch einigermaßen, aber ich konnte die Vision vom Vortag nicht vergessen — Jellys blutüberströmtes Gesicht mit den gebrochenen Augen. Ich hatte meine Mutter einmal vor schweren Verletzungen oder vor dem Tod bewahrt, weil es mir gelungen war, sie von der Zuverlässigkeit meiner hellseherischen Gabe zu überzeugen und zu überreden, ein anderes Flugzeug als ursprünglich geplant zu nehmen. Vielleicht würde ich auch Jelly überzeugen und retten können, wenn ich nur wüßte, wann und von welcher Seite ihm Gefahr drohte. Ich versuchte mir einzureden, daß ich bestimmt noch rechtzeitig genauere Visionen haben würde, daß ich imstande sein würde, meine neuen Freunde zu beschützen. Und obwohl ich nicht so ganz daran glauben konnte, klammerte ich mich an diese Hoffnung, um nicht völlig zu verzweifeln. Ich trug sogar selbst zur Unterhaltung bei, indem ich ein paar amüsante Schausteller-Geschichten zum besten gab, und Jelly belohnte mich mit schallendem Gelächter.
Luke, ein vierzigjähriger schlanker Mann mit falkenartigen Gesichtszügen, war während der ganzen Fahrt sehr einsilbig. Sein Vokabular schien nur aus Ja, Nein und O Gott zu bestehen. Anfangs hielt ich ihn für mürrisch oder unfreundlich. Aber er lachte genausoviel wie ich und benahm sich insgesamt keineswegs kalt und distanziert, und als er schließlich doch einige Sätze von sich gab, stellte ich fest, daß er schweigsam war, weil er stotterte.
Zwischen den Witzen und Limericks erzählte Jelly einiges über Lisle Kelsko, den Polizeichef von Yontsdown, mit dem wir es in erster Linie zu tun haben würden. Obwohl er diese Informationen ganz beiläufig von sich gab, so als wären sie nicht weiter wichtig und interessant, entwarf er allmählich ein sehr negatives Bild dieses Mannes. Jelly zufolge war Kelsko ein Ignorant, aber alles andere als dumm. Er war ein Speichellecker, aber er hatte seinen Stolz. Er war ein abgefeimter Lügner, fiel aber auf die Lügen anderer nicht herein, wie es den meisten Lügnern passierte, denn er hatte sich die Fähigkeit bewahrt, zwischen Wahrheit und Täuschung zu unterscheiden, auch wenn er selbst beides willkürlich mischte. Kelsko war bösartig, sadistisch, arrogant, stur und bei weitem der schwierigste Mann, mit dem Jelly es in den elf Bundesstaaten zu tun hatte, die der Sombra Brothers Carnival bereiste.
»Rechnen Sie mit Schwierigkeiten?« fragte ich.
»Kelsko nimmt die Zuckerchen an, stellt aber nie übertriebene Forderungen«, erwiderte Jelly. »Aber manchmal läßt er uns eine Art Warnung zukommen.«
»Was für eine Warnung?« wollte ich wissen.
»Es macht ihm Spaß, uns von einigen seiner Leute verprügeln zu lassen.«
»Was?« rief
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