Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
Gesund. Sie hatte noch Jahre vor sich. Unsinn. Das glaubte sie einfach nicht.
Layla hob den Blick zu Adam. »Wie viel Zeit bleibt mir noch?
Er blähte die Nasenflügel. Sein Kiefer zuckte. »Soviel ich weiß, leben Sie bereits seit vierundzwanzig Stunden auf Pump.«
Wie eine riesige Krähe hing Khan mit ausgebreiteten dunklen Flügeln in der Luft und suchte intensiv nach dem lebenden Bösen, nach Geistern und ihren noch gierigeren Brüdern, den Wichten .
Wichte . Sie tauchten unweigerlich auf, denn ein Monster bedingte stets ein weiteres. Ließ man einen Geist so lange hungern, bis alles Menschliche in ihm zerstört und sein Körper ein Opfer seiner eigenen Gier geworden war, hatte man einen Wicht. Adams fest verschlossene Kisten konnten sie nicht aufhalten. Genauso wenig wie die Schwerkraft. Sie bestanden aus zu geringer Masse, als dass weltliche Begrenzungen ihnen etwas ausmachten. Dennoch waren sie weder Geister noch Gespenster und würden es auch nie werden, denn sie besaßen keine Seele. Sie wurden einzig von ihren Trieben gesteuert.
Adam musste jetzt auf eine alte Bautechnik mit Erde, Stein und Magie zurückgreifen. Einen Tumulus, ein Hügelgrab. Khan würde Talia gegenüber etwas in der Art erwähnen.
Die Sonne erklomm gerade den Horizont. Unter Khan im Wald ging Layla mit Adam auf die Überreste von Khans erstem Opfer zu, den Wicht, der sie beinahe erwischt hatte. Jetzt war er tot.
Ein Brennen auf seiner Haut verriet Khan, dass sich noch eine weitere Spezies dem Schlachtfeld näherte. Der Orden, der so hell strahlte, dass sie die Wiese vor dem Hauptgebäude von Segue erleuchtete. Die Geister waren wegen Adam und Talia gekommen, die Engel kamen seinetwegen.
Aus der Luft beobachtete er ihre Ankunft. Die Geister waren tot oder geflohen, und Layla stand unter Adams Schutz. Ja, er musste sich um die Engel kümmern. Sie hatten das Tor in ihrem Gewahrsam . Irgendwann mussten sie seinen Erschaffer fragen, wie man es zerstörte. Er hatte bereits mit ihnen gerechnet.
Er flog aus dem Wald hinaus, breitete sich am Himmel aus und sammelte sich vor den fünf Engeln, die wie Zugvögel in Form eines V auf dem vertrockneten Rasen standen. Unter ihnen Custo, der Khan mit kühlem Blick musterte, während Schatten in seinen Augen tobten.
Anders als bei Layla sorgte sich Khan bei den Engeln nicht wegen seines Aussehens; sie wussten, wer er war. Khan interessierte nicht, wie ihre individuelle Vorstellung vom Tod aussah. Der eine machte aus ihm ein Skelett mit bösem Blick, für den anderen war er ein finsteres Wesen mit Hörnern. Custos Vorstellung ähnelte Kathleens Schattenmann, nur harscher, böser, doch immerhin ein Mann.
Die vielen Engel versengten seine Haut, was er jedoch stoisch ertrug. Erst bildeten sich Flecken, die sich langsam schwarz färbten, dann löste sich die Haut ab und erneuerte sich. In der Sterblichen Welt war das Brennen stets von Schmerz begleitet, doch das war ihm nur recht. Schmerz zu empfinden, bedeutete etwas Körperliches, etwas Weltliches, und das verband ihn mit Layla.
Am Kopf des V stand ein Engel mit gelbblondem Haar, blassblauen Augen und heller, leicht rosiger Haut. »Ich bin Ballard«, stellte er sich vor. Ein alter skandinavischer Name, der »stark« bedeutete. »Du weißt, dass wir das Höllentor zerstören werden, das du geschaffen hast.«
Das himmlische Wesen wirkte nüchtern und selbstbewusst. Sie waren nicht gekommen, um ihn etwas zu fragen , sondern um ihm eine Entscheidung mitzuteilen.
Khan konnte sich denken, was sie vorhatten. »Nein.«
»Durch die Zerstörung«, fuhr Ballard fort, »beenden wir das Leben von Layla Mathews, das unseres Wissens nach bereits zu Ende ist.«
»Nein«, wiederholte Khan mit mehr Nachdruck. Er hätte Custo nie das Tor überlassen dürfen. »Das dürft ihr nicht. Eine solche Handlung ist … «
Beschwichtigend hob Ballard die Hand. »Wir werden ganz bestimmt alles in unserer Macht Stehende tun, um ihre Schmerzen zu lindern. Keiner von uns will ihr schaden, aber wir wissen, dass die Natur ihr das Leben nehmen wird.«
Nicht, wenn Khan es verhindern konnte. Nicht heute, nicht morgen oder übermorgen. Sie hatten einander gefunden.
Als heute Morgen die Sonne aufgegangen war, hatte Khan gedacht, er müsse einen Teufel bekämpfen. Ein Kampf, den er ohne Schwierigkeiten gewinnen konnte. In der Sterblichen Welt mochte der Teufel stärker, schneller und böser als die Menschen sein, doch er war immer noch sterblich und Khan nicht.
Seine Schatten
Weitere Kostenlose Bücher