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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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sie die Hand ausstreckte, berührten die schwarzen Lippen des Falben ihre Finger.
    Â»Hast du noch eine Karotte?« fragte sie, um ihre Aufregung zu verbergen.
    August nahm eine Möhre aus der Tasche. »Wie fein ihr Gesicht geschnitten ist.« Er zog die Bank heran, setzte sich und betrachtete das Kunstwerk mit verdrehtem Kopf.
    Niemand braucht diese Madonna, dachte Inga; das dumme Gefühl stellte sich trotzdem ein.

    Das leere Bett beunruhigte sie nicht, er durfte ja aufstehen – sie hatten es frisch bezogen. Kein Buch auf dem Nachttisch, die Krük- ken fehlten, vielleicht war er ins Casino gegangen – beschwerlich, auf dem unebenen Waldboden. Inga schaute den Korridor zwischen den Betten hinunter, Sonnenstreifen auf der Terrasse, jetzt erst fiel ihr das Krankenblatt auf – darauf stand nicht sein Name. Dieses Bett erwartete einen neuen Patienten. Unruhig nahm sie die Halterung ab, vergewisserte sich, daß sein Blatt nicht dazwischengerutscht
war, steckte das Blechding zurück, es ließ sich nicht gleich befestigen, sie warf es aufs Bett und lief ans Ende des Flures ins Zimmer der Aufsicht.
    Â»Hayden ?« wiederholte die Schwester mit der Warze, täglich saßen sie nebeneinander auf dem Transporter. »Der ist dienstfähig geschrieben.«
    Â»Aber er konnte noch nicht richtig laufen.« Inga lümmelte auf dem Fensterbrett, als hätte sie alle Zeit.
    Â»Was willst du von dem?«
    Â»Ich habe ihm ein Buch besorgt.«
    Â»Willst du’s hier lassen?« Die Neugier stand der Warzigen ins Gesicht geschrieben.
    Â»Irgendwo muß er ja stecken. Oder haben sie ihn nach England zurückgeschickt?«
    Â»Ich fand den unangenehm«, sagte die Schwester mit anzüglichem Grinsen. »Heute morgen wurden die Fäden gezogen, gleich darauf ist er fort.«
    Auf dem Weg zu ihrer Abteilung verscheuchte Inga alle wirren Gedanken, setzte sich an die Maschine, tippte Bestellungen und ließ den Sergeant unterschreiben. Sie wartete, bis er in die Mittagspause aufbrach, und öffnete dessen Aktenschrank. In diesem Moment erschien der Officer in der Tür und stellte eine Frage. Es war Inga nicht verboten, die Gehaltslisten einzusehen, dennoch kam sie sich in diesem Augenblick wie eine Verbrecherin vor. Das Telephon klingelte, der Officer zog sich zurück. Lautes Vogelzwitschern, durchs Fenster vergewisserte sich Inga, daß niemand kam; vorsichtig ließ sie die Blechschublade aufgleiten, die Rollen liefen lauter als sonst. Ohne die Mappe herauszunehmen, fand sie das richtige Blatt, ihr Finger fuhr das Papier entlang, die monatliche Gehaltsliste der Offiziere, sie suchte Hayden, Alec, Lieutenant – der Name fehlte. Verwirrt schob Inga die Akte zurück und schloß den Schrank.
    Beim Mittagessen ging ihr Blick mehrmals zum abgetrennten Offiziersbereich, sie hoffte, das Geräusch der Krücken auf
der Schwelle zu hören, wartete, bis der letzte sein Tablett gefüllt, es wieder zurückgebracht hatte. Schließlich war nur noch Inga im Speisesaal.
    Als sie sich den Unterkünften näherte, trat ihr ein drahtiger Corporal in den Weg und fragte, ob sie sich verlaufen habe. Eine Nachricht für Lieutenant Hayden, antwortete sie und konnte nicht verhindern, daß er an ihrer Seite blieb. Gemeinsam erreichten sie die Baracke, hielten vor Tür Nummer vier, der Klemmstreifen, wo sonst das Namensschild hing, war leer. Der Corporal bot an, sich für Inga zu erkundigen, sie lehnte ab, eilte in ihre Abteilung zurück  – auf halbem Weg überlegte sie es sich anders und betrat die Kommandantur.
    Mit erhobenem Lippenstift stand die Blondine vor dem Spiegel. Inga kannte die Sekretärin des Kommandanten nur flüchtig, sie benutzte selten den Mannschaftstransport. Inga preßte die Hände ineinander und erkundigte sich nach Lieutenant Hayden. Während die andere schweigend die Lippen nachzog, betrachtete sie Inga im Spiegel. Auch wenn sich manches gelockert hatte, ging das Gespenst der Fraternisierung immer noch um: Beziehungen deutscher C.E.s zur Truppe waren verboten.
    Â»Hayden ?« wiederholte die Sekretärin. »Wurde versetzt, leichter Dienst.« Ihr Hut saß nicht gleich, wie er sollte. »Stadtkommandantur.«
    Â»Nach Föhrden?« fragte Inga erstaunt.
    Â»Fragen Sie im Schloß.« Die Sekretärin des Kommandanten nahm die Tasche und hielt Inga mit unmißverständlicher Geste die Tür auf. Die

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