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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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saß so eng, daß sie flach atmen mußte, sie schob den Träger an der Schulter zurück. Das Gedeck zeigte drei Gänge an, sämtliche Speisen auf der elfenbeinfarbenen Karte waren ihr unbekannt. Die Suppe wurde serviert – Potage creme d’artichauts, Inga hatte im Leben noch keine Artischocken gekostet, der Geschmack erinnerte sie an die Sauerampfersuppe ihres Vaters. Etwas Sonderbares ging in ihr vor; liebevoll erinnerte sie sich der Kostbarkeiten, die Erik in den schweren Jahren auf den Tisch brachte. Kartoffelschalen, die er ohne Eier und Milch in einen Auflauf verwandelte, Kohlstrünke, Gräser und Rinde, zur Suppe püriert, panierte Selleriescheiben gab es statt Kalbsschnitzel.
    Der Fisch hatte rötliches Fleisch und viele Gräten, er schwamm in Buttersauce; Inga tunkte ihr Brot ein, die warme süßliche Butter und das fettige Brotstück schmeckten ihr besser als alles, was sonst noch kam. Während sie Champignons mit gehackter Leber probierte, wurde ihr bewußt, daß sie Dinge aß, die kein Mensch im Umkreis seit vielen Jahren genossen hatte. Auf den Flaschen stand Schloßabzug 1913 oder Scharzhofberger – Auslese, meist lehnte sie ab, doch bald stieg ihr alles zu Kopf. Mit dem Fuß berührte sie ihre Tasche zwischen den Beinen; sie durfte nur bis Mitternacht ausbleiben  – wann begann die Partie? Im Nebenzimmer spielte Musik, zwei Geigerinnen, eine Cellistin, den Mann am Klavier kannte Inga aus der Schule. Es wurde Kuchen mit kandierten Nüssen serviert, danach Mokka. Die Türen zum Nebenraum öffneten sich, gemeinsam mit den anderen stand Inga auf, unauffällig trug sie die pralle Tasche unterm Arm. Die Musikerinnen legten die Instrumente weg und eilten zum Essen, der Pianist wirkte müde, sein Haar hatte sich gelichtet. Sie begegneten einander in der Flügeltür, er sprach flüchtig, wollte bei der Mahlzeit nicht zu kurz kommen.

    Inga betrat den Salon. Umringt von Gästen, stand Frau Kosigk auf dem Podest im Erker und redete gedämpft mit dem Brillenträger. In der Ecke schwenkte Gabor seinen Cognac, die andere Hand hatte er auf den Schenkel der Tischnachbarin gelegt.
    Der Leutnant unterhielt sich mit zwei Deutschen. »Der Austritt der Russen«, sagte er und wandte Inga den Rücken zu.
    Sie balancierte auf hohen Schuhen, das Kleid spannte, der ungewohnte Stoff rieb an allen möglichen Stellen. Damen mit ärmellosen Kleidern hatten rasierte Achseln, Inga preßte die Arme an den Körper, fürchtete, den eigenen Schweiß zu riechen. Der Captain löste sich aus einer Gruppe, sie wollte ihm entgegen, zwei Frauen stellten sich in den Weg. Festgewurzelt verharrte Inga mitten im Raum. Sie wünschte, Henning wäre bei ihr, er behandelte sie nicht wie der Leutnant, dessen Freundlichkeit nur so lange anhielt, wie er sie brauchte – nein, auf Henning war Verlaß.
    Wunschgemäß spielten die Musiker einen amerikanischen Schlager. Inga wippte die Hüften und versuchte entspannt wie die übrigen zu sein; statt dessen preßte sie die Lippen so stark aufeinander, daß es schmerzte. Empört starrte sie zur Generalin – wie selbstverständlich das Kleid an ihr fiel; der Bauch bildete eine kleine Wölbung. Das gebleichte Haar schimmerte unterm Kronleuchter.
    Â»Jede wirtschaftliche Bestrafung Deutschlands trifft den amerikanischen Steuerzahler.« Ein Weißhaariger mit süddeutschem Akzent ging vorbei. »Die Leute in Frankfurt –«
    Inga entdeckte einen Ohrensessel, tauchte dahinter und stellte die Tasche auf ihren Schoß. Wie sehr hatte sie sich gefreut, den Leutnant mit ihrem Betriebskapital zu überraschen; doch die Zeit verstrich, und keiner dachte ans Spiel. Sie wollte hinausgehen, wohin aber, was hatte sie in dem fremden Haus zu suchen?
    Â»Kennst du Leverton High? «
    Sie schrak hoch, die Tasche glitt zu Boden.
    Â»Es ist komplizierter als Sussex-Havellock «, flüsterte Gabor. »Aber um einiges spannender.« Im Weitergehen tippte er zart auf Ingas nackte Schulter. »Wir treffen uns im grünen Zimmer.«

    Erwartungsvoll griff sie nach der Tasche, stand auf und weckte ihre eingeschlafenen Glieder zum Leben. Mit federndem Schritt steuerte sie zum Kamin und nannte den Leutnant beim Vornamen.
    Mitten im Satz drehte er sich um. »Der Kontrollrat verkommt zum Diskutierclub –« Er hakte Inga unter, der Captain schloß sich an. Zu

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