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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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prüfte sie das Dutzend Schlüssel, fand den einen, der sich von allen unterschied. Er hatte einen Bart nach zwei Seiten, der Griff war rund und von einem Loch durchbohrt. Während Inga die Lade zuschob, zog sie die Arbeitsunterlage hervor, der Zettel klebte an der Unterkante, sie bückte sich, las die vier Ziffern in der Schrägschrift des Commanders, richtete sich
auf, ging ans Fenster. Niemand in Sicht, ein Blick auf die Photographie, das Boot wirkte kleiner als in den Erzählungen des Chefs.
    Der Schrank war schwarz, unter der Doppeltür die geschwungene Schrift Simon & Hadges, Norfolk. Als würde Inga von einer Wünschelrute geleitet, ging sie, den Schlüssel voran, zum Tresor, schob den Bart in die Vertiefung, leicht glitt er hinein und ließ sich wie erwartet nicht drehen. Zum ersten Mal berührte sie die Scheibe aus poliertem Stahl, rundum gekerbt, die Zahlen waren erhaben und vergoldet. Sie betrachtete die Nummerierung einige Sekunden, drehte das Rad zweimal gegen den Uhrzeigersinn, einmal nach rechts auf die Drei, zuletzt stand die Markierung über der goldenen Sieben. Sie lauschte, bewegte den Schlüssel, er klirrte leise, doch laut genug, schien ihr, um das Lager zu alarmieren. Nach einer halben Drehung steckte er fest, sie zog ihn ein wenig zurück, versuchte es wieder und drehte ihn erleichtert zweimal herum. Ein Ruck an den senkrechten Hebeln, beinahe von selbst glitten die Türen auf, schwangen trotz der schweren Panzerung mühelos in den rechten Winkel und gaben den Blick frei auf Ordner, Metallschachteln und dazwischen, in Wachstuch gehüllt, das Album des Kommandanten. Auch wenn Inga die Bilder seiner Reise neugierig machten, berührte sie die Erinnerungen des Officers nicht. Sie hob die erste Schatulle heraus, öffnete sie und entnahm ihr das deutsche Geld.
    In der Tasche hatte Inga zurechtgeschnittene Zellstoffstreifen verstaut, legte sie in die Schachtel, bis sie fast den Rand erreichten und breitete auf jeden Stapel zwei Banknoten. Bis obenhin schien die Schatulle mit Geld gefüllt, auf den ersten Blick ließ sich kein Unterschied feststellen. Mit den englischen Scheinen wollte sie ebenso verfahren, klappte den Deckel auf – der Kasten war zur Hälfte leer. Auch wenn das Ingas Rechnung durcheinanderbrachte, tat sie Zellstoff in die Schatulle, bedeckte ihn, die restlichen Pfundnoten wanderten in ihre Tasche, ebenso die Reichsmark.
    Sie wischte die schwitzenden Hände trocken, schob die Metallkästen an ihren Platz, vergewisserte sich, daß alles unverändert aussah,
schloß die Türen, zog den Schlüssel ab und drehte die Scheibe in eine wahllose Position. Der Schlüsselbund wurde im Schreibtisch verwahrt, die Lade verschlossen, der Schlüssel über das Waschbord gelegt. Sie bemerkte, wie flach sie atmete, richtete sich auf und tat einen gewaltigen Seufzer. Ihr Blick fiel in den Spiegel – nicht in die eigenen Augen sehen –, sie wandte sich ab, bedeckte den Inhalt der Tasche mit ihrem Kopftuch und kehrte in ihr Büro zurück.
    Fast gleichzeitig betrat der Sergeant die Baracke und fragte gutgelaunt nach dem Postausgang. Als ob der Boden sich unter ihren Füßen neigte, machte Inga einen Ausfallschritt – sie hatte die Mappe im Zimmer des Commanders vergessen. Ging noch einmal hinüber, brachte sie, der Sergeant fügte zwei Briefe ein und trug die Mappe persönlich auf den Tisch des Kommandanten zurück. Während er drüben rumorte, krampfte sich Ingas Magen zusammen, sie schrieb eine Bestellung zu Ende, nahm die Tasche und ging nach draußen.
    Auf dem Klo kniete sie keuchend über der Schüssel – Vierundzwanzig Tage, flüsterte sie ein ums andere Mal, wenn sie das Glück nicht verließ, würden die Blechkästen erst in vierundzwanzig Tagen wieder geöffnet werden. Sie betrachtete den Speichelfaden, der länger wurde, ohne zu reißen. Auf dem Rückweg begegnete ihr der Commander, die Hände in den Hosentaschen, sah er vergnügter aus; Jasper blieb hechelnd zurück, der weite Weg hatte ihn müde gemacht. Der Chef wollte zum zweiten Frühstück, zog sich gar nicht erst um, sondern verschwand auf dem nadelbesäten Weg, der zum Casino führte.
    In wacher Besinnungslosigkeit verbrachte Inga die Stunden bis zum Lunch, lief mit ihrer Tasche unauffällig zum D-Block und schloß sich ein. Zahlen, nüchternes Rechnen, halfen, um den

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