Zwischen Himmel und Liebe
Klarheit. Außer bei Nacht, denn da hinderte sie das Chaos ihrer Gedanken, das sich anhörte wie ein Gewirr einander ins Wort fallender Stimmen, am Schlafen, und zwar so durchschlagend, dass sie kaum die Augen schließen konnte.
Im Augenblick machte sie sich Sorgen wegen Luke. Dieser Ivan spukte schon viel zu lange im Kopf ihres Neffen herum. Das ganze Wochenende hatte sie beobachtet, wie Luke alleine durch die Gegend rannte, redete und spielte, wie er lachte und kicherte, als hätte er einen Mordsspaß. Vielleicht musste sie etwas unternehmen. Jetzt, wo Edith nicht da war, bekam sie Lukes seltsames Betragen ja nicht mit und konnte nicht auf ihre wundervolle Art damit umgehen, wie es ihr sonst immer gelang. Wahrscheinlich erwartete man nun von Elizabeth, dass sie automatisch wusste, was los war. Wieder erhoben ihre Probleme mit dem Mysterium Mutterschaft ihren hässlichen Kopf, und niemand war da, den sie um Rat fragen konnte. Und natürlich gab es auch kein Vorbild, nach dem sie sich richten und von dem sie lernen konnte. Nun, das stimmte nicht ganz – sie hatte gelernt, was man
nicht
tun sollte, und diese Lektion war doch so gut wie jede andere. Bisher war sie einfach ihrem Bauchgefühl gefolgt. Sicher, sie hatte ein paar Fehler gemacht, aber im Großen und Ganzen hatte sich Luke gut entwickelt und war ein höflicher, stabiler Junge geworden. Aber vielleicht war auch alles ein großer Irrtum. Was, wenn Luke so endete wie Saoirse? Schließlich musste Elizabeth ja auch bei ihr einiges verpatzt haben, wenn so etwas aus ihr geworden war, oder nicht? Sie stöhnte frustriert und legte einen Moment den Kopf auf den Tisch.
Schließlich rappelte sie sich auf, stellte den Computer an und nippte an ihrem Kaffee, während das Gerät hochfuhr. Entschlossen gab sie bei Google die Worte »unsichtbarer Freund« ein und klickte auf »Suche«. Mehrere hundert Ergebnisse erschienen. Dreißig Minuten später fühlte sie sich schon viel besser.
Zu ihrer Überraschung erfuhr sie nämlich, dass unsichtbare Freunde ein recht häufiges Phänomen waren und – zumindest, solange sie das tägliche Leben nicht allzu sehr durcheinander brachten – eigentlich auch kein Problem darstellten. Obgleich natürlich schon die Existenz eines imaginären Freundes eine Störung für Elizabeths Alltag bedeutete, schien es für die Online-Ärzte nicht so schlimm zu sein. Eine Seite nach der anderen gab ihr den Rat, Luke zu fragen, was Ivan dachte und machte, weil das eine gute Möglichkeit war herauszufinden, was Luke selbst dachte. Man ermutigte sie, tatsächlich den Tisch für ihren Phantomgast zu decken, und versicherte ihr wiederholt, dass keine Notwendigkeit bestand, dauernd darauf hinzuweisen, dass Lukes »Freund« nur in seiner Fantasie existierte. Mit großer Erleichterung nahm sie zur Kenntnis, dass man imaginäre Freunde allgemein als Zeichen großer Kreativität einschätzte und in ihnen keineswegs Warnzeichen für Einsamkeit und Stress sah.
Trotzdem würde es für Elizabeth nicht leicht werden, denn solche Konzepte widersprachen allem, woran sie glaubte. Ihre Welt und das Land der Fantasie lagen auf zwei verschiedenen Planeten, und sie fand es äußerst schwierig zu schauspielern. Sie konnte keine Babygeräusche von sich geben, wenn sie einem Kleinkind begegnete, sie konnte nicht so tun, als würde sie sich hinter ihren Händen verstecken, sie konnte einem Teddy kein Leben einhauchen oder gar eine Stimme geben, sie hatte nicht mal im College Spaß an Rollenspielen gefunden. Sie hatte immer aufgepasst, dass sie sich nicht anhörte wie ihre Mutter, denn das hätte ihren Vater nur wütend gemacht. Schon ganz früh war ihr das alles eingeimpft worden, aber jetzt rieten ihr diese Experten auf einmal zu einer grundsätzlichen Veränderung.
Sie trank ihren Kaffee aus und las den letzten Eintrag auf ihrem Bildschirm.
Imaginäre Freunde verschwinden fast immer innerhalb von drei Monaten, ganz gleich, ob man ihnen positiv oder negativ gegenübersteht.
In spätestens drei Monaten würde sie sich mit Freuden von Ivan verabschieden und zu ihrem normalen Leben zurückkehren. Sie blätterte in ihrem Kalender und kreiste den August mit rotem Marker ein. Wenn Ivan bis dahin nicht aus dem Haus war, würde sie die Tür aufreißen und ihm den Weg zeigen.
Acht
Ivan saß in dem schwarzen Ledersessel am Empfangstresen vor Elizabeths Büro und drehte sich. Er konnte hören, wie Elizabeth nebenan am Telefon ein Meeting arrangierte und dabei ihre
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