Zwischen Leidenschaft und Liebe
den Nacken und blickte Trevelyan an. »Sie will es nicht verstehen, nicht wahr?«
Trevelyan schüttelte den Kopf.
»Ihr beide wollt nicht verstehen«, rief Claire. »Ihr verhaltet euch so, als ob diese heidnische Religion einen sittlichen Wert hätte! Für mich ist so etwas unfaßbar! Junge, schöne Frauen werden umgebracht zu Ehren irgendeines Idols. Ich kann nicht begreifen, daß ihr ...«
Sie hielt inne, weil Trevelyan ihre Schulter umfassen wollte, aber Nyssa legte ihm die Hand auf den Arm und sagte leise: »Nein.« Dann hob sie den Kopf und sah die beiden Männer neben dem Zelteingang an. »Laßt uns allein«, befahl sie ihnen und gab auch Trevelyan mit dem Kopf ein Zeichen, sich zu entfernen.
Als die drei Männer sich bis zum Fuße des Hügels zurückgezogen hatten und die Flötenmusik verstummte, holte Claire tief Luft. »Jetzt bist du außer Gefahr«, sagte sie. »Wenn wir laufen und . . .«
»Nein!« unterbrach Nyssa sie in scharfem Ton. »Kannst du dich nicht bemühen zu verstehen? Niemand zwingt mich, es zu tun. Ich tue es, weil ich daran glaube.«
Claire spürte, wie ihr Ärger zunahm: »Du willst sterben, damit du immer eine Schönheit bleibst? Ich möchte bezweifeln, daß ein verwesender Leichnam einen schönen Anblick bietet.«
»Ich tue es, weil ich daran glaube.«
»Aber dein Glaube ist ein Irrtum.« schrie Claire.
»Er ist anders, das ist alles, und ich schäme mich für dich, weil du anzunehmen scheinst, ich würde mein Leben für eine körperliche Schönheit hingeben. Seit Jahrhunderten stirbt alle fünfzig Jahre die Perle des Mondes und gewährleistet die Sicherheit meiner Stadt. Wird diese Tradition durchbrochen, geht Pesha zugrunde.«
Claire seufzte erleichtert. »Es ist nicht der Tod dieser Frauen gewesen, der Pesha schützte. Die Stadt blieb so lange unentdeckt, weil keine Straßen dahin führten. Eines Tages werden Züge nach Pesha fahren. Und das wird noch zu deinen Lebzeiten geschehen.«
»Nicht zu meinen Lebzeiten, weil ich heute sterben werde.«
Claire sah sich in ihrer Hoffnung enttäuscht. »Pesha ist bereits entdeckt«, sagte sie rasch. »Dein Tod wäre also sinnlos. Captain Baker hat die Stadt gefunden. Wenn er Pesha betreten konnte, werden viele andere es ebenfalls können. Königin Victoria wird Hunderte von Soldaten nach Pesha schicken. Das kannst du nicht verhindern. Und ganz gewiß kann dein Tod diese Entwicklung nicht aufhalten.« Claires Miene hellte sich wieder auf. »Du könntest um die Welt reisen und den Menschen von deiner Religion berichten. Du sprichst so gut Englisch. Du kannst zur Bildung der Menschheit beitragen. Du kannst...«
Claire verstummte, weil Nyssa Trevelyan ein Zeichen gegeben hatte, nun wieder zu ihr zu kommen. Trevelyan trat zu Claire, faßte sie um die Taille und drückte sie an sich.
»Laß mich los!« rief Claire und versuchte, ihn gegen das Schienbein zu treten. »Laß mich los, und hol jemanden zu Hilfe. Sie will sich von diesen Wilden umbringen lassen. Du mußt das verhindern!«
»Nein«, raunte Trevelyan ihr ins Ohr. »Es ist Nyssas Wille, zu sterben.«
Claire wehrte sich nun nicht länger gegen Trevelyans Griff. Sie drehte den Kopf zur Seite, damit sie ihm ins Gesicht schauen konnte. »Das hast du also damit gemeint, als du zu mir sagtest, Nyssa dürfe tun und lassen, was sie möchte? Du hast das schon seit Monaten gewußt, nicht wahr? Du hast schon immer gewußt, daß sie sterben will!«
»Ich wußte es, als sie in Edinburgh nach ihrem Becher verlangte.«
»Becher? Was für einen Becher?« Claires Stimme wurde schrill. »Was für einen Becher!«
Trevelyan deutete mit dem Kopf auf Nyssa. Einer der beiden dunkelhäutigen Männer goß gerade eine Flüssigkeit in diesen primitiv gearbeiteten Becher, den Trevelyan ihr aus einem Schrank in Jack Powells Haus in Edinburgh geholt hatte. Einen Moment lang war Claire wie gelähmt, während Trevelyans Arm sich noch fester um ihre Taille legte. Sie konnte nicht glauben, was sie sah und gehört hatte.
Als Nyssa den Becher an den Mund führte, schrie Claire entsetzt auf und wehrte sich verzweifelt gegen Trevelyans Griff. Sie stieß und trat nach ihm, versuchte ihn mit Nägeln und Zähnen dazu zu bewegen, sie freizugeben; aber er hielt sie eisern fest.
Erst als Nyssa den Becher geleert hatte, ließ Trevelyan Claire los. Sie stürzte zu Nyssa und steckte ihr den Finger in den Hals. Und die ganze Zeit über schrie sie: »Helft mir! So helft mir doch!« aber keiner der drei Männer tat ihr den
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