Zwischen Macht und Verlangen
betrachten“, bemerkte der Boschafter mit seinem charmanten französischen Akzent. „Meine beiden Töchter haben selbst schon Kinder, trotzdem hört die väterliche Sorge nie auf. Wie geht es Ihren Sprösslingen, Myra? Ist da nicht ein neuer Enkelsohn angekommen?“
Niemand hätte das Thema, auf diplomatischere Weise in eine andere Richtung lenken können. Shelby zwinkerte dem sympathischen Verehrer ihrer Mama anerkennend zu, während Myra eine begeisterte Beschreibung des kürzlich geborenen Erdenbürgers zum Besten gab.
Die Unterhaltung rauschte leise an ihren Ohren vorüber. Sie hob ihr Glas und leerte es, dabei traf ihr Blick Alans Augen. Da war sie wieder, diese ruhige, schlummernde Geduld, die sich ein Leben lang nicht abnutzen würde. Sie spürte förmlich, wie er sich stetig durch eine ihrer schützenden Hautschichten nach der anderen durcharbeitete, bis er dann endlich auf den kleinen Kern stoßen würde, den sie so gern für sich allein behalten wollte.
Du Schuft! Fast hätte Shelby es laut gesagt. Aber in ihrem Blick mussten sich die Gedanken deutlich gespiegelt haben, denn sie erkannte das amüsierte Aufleuchten in seinen Augen, und sein Lächeln zeigte ihr, dass Alan MacGregor sie durchschaute wie Glas. Die Belagerung dauerte offensichtlich an.
Hoffentlich habe ich genügend Reserven, damit er mich nicht aushungern kann, wünschte sich Shelby.
4. KAPITEL
Shelby stürzte sich eine ganze Woche lang in ihre Arbeit. Sie war gerade in einer ihrer besonders kreativen Phasen, die sie alle paar Monate überkamen. Kean musste dann auf das Geschäft achten, während seine Chefin im Arbeitsraum blieb und stundenlang an der Töpferscheibe saß oder mit ihren Farben umging. Sie begann oft schon um sieben Uhr morgens und war spät am Abend immer noch aktiv. Sie wusste genau, dass eine solche schöpferische Stimmung ausgenutzt werden musste, und akzeptierte die damit verbundene Besessenheit. Jedes irgendwie störende Element wurde rücksichtslos von ihr abgeblockt.
Shelby war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass es sich bei diesem Beschäftigungsdrang um eine Art Selbsthilfe ihres Wesens handelte. Er trat nämlich meistens dann auf, wenn etwas sie beunruhigte oder sie sich bedroht fühlte.
Während sie arbeitete, konzentrierten sich ihre Gedanken und Gefühle völlig auf das Projekt in ihren Händen. Dadurch erübrigte sich jedes Problem, wenigstens für diesen Zeitraum. In den meisten Fällen hatte sich dann eine Lösung gefunden, wenn ihre kreative Phase sich dem Ende näherte. Aber dieses Mal klappte das leider nicht.
Die ungestüme Arbeitswut, die Shelby fast acht Tage lang in Atem gehalten hatte, legte sich in der Nacht zum Samstag. Aber Alan, den sie inzwischen eigentlich hätte vergessen haben müssen, war in ihr lebendiger denn je. Sie ärgerte sich darüber, war unzufrieden mit sich selbst. Aber das änderte nichts daran, dass er durch all ihre Gedanken geisterte, frisch und munter wie bei ihrem letzten Zusammensein.
Alan hatte Shelby nach jenem Abend bei den Ditmeyers wieder an ihrer Haustür abgeliefert. Ein kurzer Kuss war seine Verabschiedung gewesen, nicht mehr. Mit hereinkommen wollte er nicht – zu Shelbys Erleichterung. Aber das war natürlich ein Teil seiner Belagerungstaktik: Er trachtete den Feind zu verunsichern, ihn nervös zu machen und Zweifel zu wecken. Sehr kluge Strategie!
Dann war Alan für einige Tage nach Boston gefahren. Das wusste Shelby, weil er sich bei ihr – völlig unnötigerweise -telefonisch abgemeldet hatte. Höchst angenehm, denn dadurch konnte er nicht unerwartet plötzlich im Laden stehen. Shelby nahm sich fest vor, ihn in Zukunft gar nicht erst wieder eintreten zu lassen, und sie hoffte sehr, das würde ihr gelingen.
Die Hälfte der Woche war vorbei, als das Schwein eintraf. Ein großes, lavendelfarbenes, prall ausgestopftes Stoffschwein mit Samtohren und vergnügtem Grinsen. Shelby packte es zunächst in einen Schrank und versuchte, keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden. Alan hatte demnach schon erkannt, dass ein direkter Weg zu ihr über Humor und harmlose Blödelei führte. Bei ihm hatte sie allerdings kein Gespür für solchen Unsinn vermutet.
Sie taufte das Stofftier MacGregor und legte es auf ihr Bett. War es nicht ein herrlicher Spaß, dass sie von nun an mit einem MacGregor schlafen würde?
Als sich die Woche dem Ende näherte, hatte Shelby sich fest dazu entschlossen, keinerlei Zustellungen mehr anzunehmen und einfach den Hörer aufzulegen,
Weitere Kostenlose Bücher