Zwischen Macht und Verlangen
der Tod ihres Vaters ihr auch noch so nahe gegangen sein, deshalb kann sie doch ihre Gefühle für einen anderen Mann nicht willkürlich abschalten!“ bemerkte Alan bitter.
„Natürlich nicht, aber wahrscheinlich bildet sie sich ein, sie könnte es.“
„Shelby bildet sich allerlei ein.“
„Sie sind ungerecht, Alan. Shelby fühlt intensiver als andere.“
Alan zwang sich dazu, wieder seinen Platz einzunehmen. „Seit ich Shelby kenne, sind einfache Frauen mir ein Gräuel.“ Die Dinge waren ihm durch Myras Bericht klarer geworden. War es nicht seine Spezialität, mit schwierigen Situationen fertig zu werden? Was hatte Shelby gestern Nachmittag gesagt? Sollten ihre verletzenden Worte ihn nur abschrecken? In ihren Augen hatte er unmissverständlich Bedauern gelesen. „Gestern hat sie mir den Abschied gegeben“, sagte er ruhig.
Myra setzte klirrend ihre Tasse ab. „Was für ein Unsinn. Das Mädchen brauchte eine …“ Dann verbesserte sie sich: „Wenn Sie sich so schnell entmutigen lassen, Alan, weiß ich wahrhaftig nicht, warum ich mir so viel Mühe gebe. Ihr jungen Menschen wollt heutzutage alles auf einer Silberplatte serviert bekommen. Ein kleiner Stolperstein, und ihr gebt auf. Mein lieber Alan, Ihr Vater“, fuhr sie fort und kam dabei mächtig in Fahrt, „der ist durch alle Schwierigkeiten wie ein Panzerwagen gedonnert, wenn es anders nicht klappte. Und Ihre Mutter – ich glaubte immer, dass Sie dies Talent von ihr geerbt hätten – löst jedes Problem so elegant, dass die Wasseroberfläche sich danach nicht mal kräuselt. Sie würden einen feinen Präsidenten abgeben“, beendete sie grollend ihre Vorhaltungen. „Ich werd’ mir überlegen müssen, ob ich Sie überhaupt mit gutem Gewissen wählen kann.“
„Ich kandidiere ja gar nicht als Präsident“, warf Alan ein.
„Noch nicht.“
„Noch nicht“, stimmte er zu. „Und ich werde Shelby heiraten.“
6. KAPITEL
Sechs von den sieben Tagen der Woche hatte Shelby recht und schlecht überstanden, aber am Freitagnachmittag fielen ihr für ihre schlechte Laune und ständige Geistesabwesenheit keine Entschuldigungen mehr ein.
Shelby wusste genau, dass etwas mit ihr nicht stimmte, aber sie brachte nicht ein einziges Mal Alan damit in Verbindung. Im Gegenteil, sie redete sich ein, sie denke überhaupt nicht mehr an ihn. Darauf war sie stolz und so lange mit sich zufrieden, bis sie einmal eine fast fertig gestellte Vase in Delfterblau an die Wand ihres Arbeitsraumes schmetterte.
Lag es vielleicht am Wetter? Shelby saß hinter dem Ladentisch und schaute hinaus auf die Straße. Den Kopf auf die Hände gestützt, hörte sie laute Radiomusik und die immer wiederkehrende Vorhersage, dass der Regen bestimmt zum Wochenende vorüber sei. Wie viele Lichtjahre waren es noch bis zum Sonntag?
Viele Menschen werden durch Dauerregen depressiv, überlegte Shelby. Sie selbst war. nie wetterempfindlich gewesen, aber könnten solche Symptome nicht auch plötzlich auftreten? Es goss schon zwei volle Tage, und sie wurde immer missmutiger.
Shelby vermochte nicht einmal zu erkennen, wer auf der Straße vorbeihuschte. Die erst kürzlich geputzten Schaufensterscheiben würden schön schmutzig aussehen, wenn erst die Sonne wieder herauskäme.
Auch für meinen Umsatz ist das Wetter katastrophal, dachte sie heiter. Kaum ein Kunde hatte sich während der letzten Tage in ihren Laden verirrt. Normalerweise hätte Shelby mit den Schultern gezuckt und einfach die Tür abgeschlossen. Heute aber beschloss sie, mürrisch auszuharren.
Vielleicht sollte ich übers Wochenende wegfahren? Der Gedanke gefiel ihr. Ich könnte einen Flug buchen und Grant überraschen – er würde entsetzt sein! Diese Vorstellung war Balsam für ihre schlechte Stimmung. Er würde mich sehr beschimpfen, wenn ich unangemeldet erschiene, und da könnten wir uns gegenseitig ärgern. Richtig spaßig war so etwas eigentlich nur mit ihm.
Aber Grant würde mich sofort durchschauen. Shelby seufzte. Er wüsste genau, dass ich Kummer habe. Obgleich er sein eigenes Privatleben hütet wie einen kostbaren Schatz, wird er so lange bohren, bis ich ihm mein Problem erzähle. Dann schon eher ein Gespräch mit Mama, wenn ich überhaupt reden will. Grant würde mich nämlich nur allzu gut verstehen …
Also in Georgetown bleiben und mich weiter quälen. Oder aber mit dem Wagen ins Blaue fahren. An die Küste vielleicht oder zum Skyline Drive nach Virginia?
Shelby sah sich gerade nach dem Schild mit der Aufschrift
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