Zwischen Rom und Mekka
Weise Gott sich den Propheten geoffenbart habe und weshalb diese von Gott erwählt worden; ob es wegen der erhabenen Gedanken geschehen sei, die sie von Gott und von der Natur gehabt, oder bloß um ihrer Frömmigkeit willen. Nachdem ich hierüber Gewissheit erlangt, konnte ich leicht erkennen, dass das Ansehen der Propheten nur in den Dingen Bedeutung hat, welche den Lebenswandel und die wahre Tugend betreffen, und dass im Übrigen ihre Ansichten uns nicht berühren.«
Was der philosophische Theologe des 17. Jahrhunderts gleich danach über die Juden schreibt, gilt auch für Muslime. Oder?
»Nach Feststellung dessen ermittelte ich weiter, weshalb die Juden die Auserwählten Gottes genannt worden sind. Als ich erkannte, dass dies bloß geschehen, weil Gott ihnen ein besonderes Land auf dieser Erde ausgewählt, wo sie sicher und gemächlich leben konnten, so erkannte ich auch, dass die von Gott dem Moses offenbarten Gesetze nur das Recht des besonderen jüdischen Staats bezeichnen, weshalb niemand außer ihnen sie anzunehmen braucht, und dass selbst diese nur für die Dauer ihres Reiches daran gebunden waren.«
Was Spinoza aus den heiligen Schriften der Juden und Christen für die Vernunft folgert, gilt auch für den Koran und die Vernunft im Islam. Oder?
Ehrfurcht gegen Gott
»Um ferner zu wissen, ob man aus der Bibel folgern könne, dass der menschliche Verstand von Natur verderbt sei, so ermittelte ich, ob die katholische Religion oder das göttliche Gesetz, was durch die Propheten und Apostel dem ganzen Menschengeschlechte geoffenbart worden, von der verschieden sei, welche das natürliche Licht lehrt; und ferner, ob Wunder gegen die Ordnung der Natur geschehen sind, und ob das Dasein und die Vorsehung Gottes sicherer und klarer durch Wunder bewiesen werde, als durch die Dinge, welche wir klar und deutlich nach ihren obersten Ursachen erkennen. So fand ich, dass in den ausdrücklichen Lehren der Bibel nichts enthalten ist, was mit dem Verstande nicht übereinstimmt oder ihm widerspricht und dass die Propheten nur ganz einfache Dinge gelehrt haben, die jedermann leicht begreifen könnte, und dass sie nur dieselben mit solchen Ausdrücken verziert und mit solchen Gründen unterstützt haben, welche die Gemüter der Menge am meisten zur Ehrfurcht gegen Gott bewegen konnten. Ich überzeugte mich, dass die Bibel die Freiheit der Vernunft völlig unbeschränkt lässt, dass sie nichts mit der Philosophie gemein hat, und dass sowohl diese wie jene auf ihren eignen Füßen steht. Um dies aber zweifellos darzulegen und die Sache zu entscheiden,
zeige ich die Art, wie die Bibel auszulegen ist, und wie die ganze Kenntnis von ihr und von den geistlichen Dingen aus ihr allein und nicht aus dem, was man mit dem natürlichen Licht erfasst, abgeleitet werden muss.«
Gegen solche Einsichten haben sich die Religiösen des 17. Jahrhunderts gewehrt. Synagoge und Kirche sprachen den Bann. Aber es half nichts. Die Gedanken wirkten fort. Können die religiösen Muslime allein die Fragen danach im 21. Jahrhundert ignorieren, totschweigen, abwehren, entkräften? Oder im Dialog sagen, Spinozas Fragen gelten nur der Bibel und dem Jüdisch-Christlichen? Das Ergebnis ist: Nach mehr als drei Jahrhunderten einer intensiven Bibelerforschung, des Alten wie des Neuen Testaments, sind ihre kühl-rationalen Anhänger, Juden wie Christen, offener für Gottes Wort geworden, ihre frommen Kritiker mutiger im Hinblick auf die Anerkennung des Menschlichen in den heiligen Schriften. Die moderne Kritik der heiligen Schriften muss also nicht zerstörerisch wirken.
Aber Benedikt Spinoza will nicht der Religion den Garaus machen, so wie spätere Religionskritiker des 18. (Voltaire), 19. (Feuerbach), 20. und 21. Jahrhunderts. Bietet er vielleicht mit der Scheidung der wahren von der falschen Religion den Rettungsweg zu Gott, zu Gerechtigkeit und Solidarität für die immer mehr aufgeklärten Menschen?
Vorurteile und Aberglaube
»Sodann decke ich die Vorurteile auf, die daraus entstanden sind, dass die Menge, welche dem Aberglauben ergeben ist und die Religion der Zeit mehr als die Ewigkeit selbst liebt, lieber die Bücher der Bibel als Gottes Wort selbst anbetet. Demnächst zeige ich, dass das Wort Gottes nicht in einer bestimmten Zahl von Büchern offenbart ist, sondern die einfache Vorstellung des göttlichen Geistes ist, wie er sich den Propheten offenbart hat, und zwar dahin, Gott mit ganzem Herzen zu gehorchen und die Gerechtigkeit und Liebe zu
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