Zwischen uns das Meer (German Edition)
Jolene sich umwandte, sah sie einen großen Farbigen mit grauen Dreadlocks, der ins Zimmer kam. Er trug eine Pflegerkluft in leuchtendem Pink und grinste wie ein Lottogewinner, als er an Michael vorbeiging. Mit äußerster Vorsicht hob er Jolene aus dem Rollstuhl und legte sie aufs Bett. Er zog ihr den Schuh aus, stellte ihn beiseite und deckte sie mit der leuchtend roten Decke auf ihrem Bett zu. Als er fertig war, beugte er sich zu ihr und sagte leise: »Einfach atmen, Jolene. Sie stehen das durch. Ich hab gehört, Sie sind zäh wie Leder.«
Überrascht blickte sie zu ihm auf. »Wer sind Sie?«
Er lächelte. »Ihr Physiotherapeut. Conny. Heute Abend um sechs sehen wir uns bei Ihrer Einweisung.«
»Sie sehen gar nicht wie ein Conny aus.«
»Das hör ich ständig, Schätzchen.« Immer noch lächelnd stellte er sich der Familie vor, gab Michael die Hand und verschwand wieder.
Und dann war Jolene allein mit ihrer Familie.
Sie blickte die Menschen an, die sie liebte. Verzweifelt wünschte sie sich, so etwas wie Freude zu empfinden. Doch in ihr regte sich nichts, und das erschreckte und deprimierte sie. Sie fühlte rein gar nichts.
Lulu löste sich von den anderen und kam zum Bett. Sie sah auf die flache Stelle unter der Decke, wo Jolenes Bein hätte liegen sollen. Mit gerunzelter Stirn klopfte sie darauf. »Ja, das ist weg. Wo ist es denn?«
»Nicht hier, Lulu. Mein Bein war schlimm verletzt. Aber ich wurde operiert, und jetzt geht es mir wieder gut.« Jolenes Stimme brach bei dieser Lüge.
Lulu stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte auf Jolenes eingegipsten Arm, aus dem ihre geschwollenen, blutlosen, unbeweglichen Finger herausragten. »Aber du hast immer noch zwei Hände«, stellte sie fest und wandte sich zu Betsy. »Sie hat noch zwei Hände, Bets. Wir können immer noch Backe-backe-Kuchen spielen.«
Betsy antwortete nicht. Sie stand nur da und starrte Jolene mit weit aufgerissenen Augen erschrocken an. Auch sie hatte Angst. Das war nur natürlich. Schließlich war ihre Mutter verkrüppelt nach Hause gekommen. Nicht gerade eine beruhigende Aussicht für die Zukunft. Und die ersten Worte ihrer Mutter an sie waren eine wütende Zurechtweisung gewesen.
Jolene wusste, dass jetzt der Zeitpunkt war, den Ton vorzugeben und zu sagen: Hey, ich hab ein Bein verloren, aber wer braucht schon zwei?, damit es ihnen allen besserging, aber sie konnte es nicht. Sie schaffte es einfach nicht. Bisher hatte sie nicht mal den Mut gefunden, ihr Bein anzusehen. Wie sollte sie da so tun, als machte es ihr nichts aus?
Mila trat zu Betsy, legte ihr eine Hand auf die Schulter und schob sie vor. »Deine Töchter haben sich so auf dich gefreut, dass sie kaum schlafen konnten.«
Jolene hörte das Zögern in der Stimme ihrer Schwiegermutter, den leisen Vorwurf. Jolene hätte sich anders verhalten müssen.
»Du wirst wieder ganz die Alte werden«, fügte Mila nach einer unbehaglichen Pause hinzu, in der Betsy auf den Boden gestarrt und an ihrem Daumennagel gekaut hatte.
Jolene nickte. An diese Hoffnung klammerte sie sich. »Natürlich. Es war nur ein langer Flug. Und mein Bein tut weh.«
»Du brauchst nur etwas Zeit.«
Sie biss die Zähne zusammen und hoffte, es ginge als Lächeln durch.
»Nun denn«, sagte Mila. »Dann wollen wir mal gehen, damit eure Mom sich ausruhen kann.«
»Ja«, bekräftigte Betsy rasch.
»Küss mich, Mommy!«, rief Lulu und breitete die Arme aus.
Michael hob sie hoch, Lulu schlang die Arme um Jolenes Hals und schmiegte sich wie ein kleines Kaninchen an sie. »Ich hab dich lieb, Mommy.«
Und da war sie, die Liebe. Sie strömte in Jolenes Herz, bis es übervoll war. Als sie anfing zu weinen, merkte sie es nicht mal. Sie klammerte sich so fest an ihre Tochter, dass sie beide keine Luft mehr bekamen. »Ich hab dich auch lieb, Mieze. Und euch auch, Betsy, Mila. Es tut mir leid, dass ich so erschöpft bin. Es war ein langer Flug.«
»Das verstehen wir doch, nicht wahr, Mädchen?«, erwiderte Mila und tätschelte Betsy die Schulter.
»Betsy?«, fragte Jolene. »Willst du auch einen Abschiedskuss?«
»Ich will dir nicht weh tun «, erwiderte Betsy trotzig.
»Betsy«, mahnte Mila.
Daraufhin trat Betsy steif vor, beugte sich zu Jolene und gab ihr blitzschnell einen Kuss auf die Wange. Bevor Jolene sich’s versah, entfernte sich Betsy schon wieder vom Bett.
Jolene winkte mit ihrer linken Hand und sah zu, wie alle das Zimmer verließen. Nur Betsy blieb nicht noch mal an der Tür stehen, um ihr ein
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