Zwischenspiel: Roman (German Edition)
Jahren. Niemand wird Sie haben wollen, nirgends. Ich will Sie auch nicht. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ein Pfarrer wird Sie aufnehmen, wegen der christlichen Nächstenliebe. Sie, sagte ich zu Margot, dürfen später nach Chile zu Ihrer Tochter reisen. Ihr Mann muss vorher ins Gefängnis, kommt aber nach. Allerdings, na Sie wissen ja, der Krebs. Aber nichts ist mehr rückgängig zu machen. Von eurem Arbeiter- und Bauernparadies ist nichts übrig geblieben außer dem Bautzener Senf, Kathis Kuchenmehl und ein paar anderen Kleinigkeiten. Niemand will euch wiederhaben, nicht einmal die Kommunisten.
Erich nahm seine Brille ab, verwahrte sie sorgsam in der Brusttasche seines Jacketts und verbarg sein Gesicht in beiden Händen, während Margot schrie: Kommunisten? Verräter sind das, Heuchler, die schon dem großen Reformator mit dem Kainsmal auf der Stirn in den Arsch gekrochen sind. Und das blöde Volk immer hinterher.
Ich sah mich um. Zum Glück waren außer dem küssenden Paar keine Menschen in der Nähe, die sie hätten hören können.
An Ihrer Stelle würde ich hier nicht so rumschreien, sagte ich. Deutschland ist seit zwanzig Jahren vereinigt. Wir haben jetzt die Demokratie, das ist kompliziert genug. Es gibt viele Leute, die immer noch eine Mordswut auf Sie haben. Ich auch, wenn ich lange genug nachdenke.
Nicki, den meine Erregung alarmiert hatte, erlöste Erich und setzte sich neben mich. Komm, sagte ich, wir gehen.
Was soll denn das für eine Demokratie sein, in der ich nicht schreien darf, was ich will?, fragte Margot triumphierend.
Und Erich krächzte: Wir Kommunisten wurden oft verfolgt, aber nie besiegt.
Ich hatte genug von dem Spuk. Und wenn ich den beiden erzählt hätte, wie es in unserer schönen neuen Demokratie gerade aussah, dass wir seit Jahren in einer monströsen Krise hingen, die von den geheimbundähnlich agierenden Regierungen im Verein mit undurchschaubaren Banken ausgenutzt wurde, um neue Kommissionen, Räte und andere Gremien zu schaffen, deren Namen über ihre Funktion nichts verrieten und die den Verdacht aufkommen ließen, sie seien den Arsenalen des Regimes entliehen, dem wir gerade entkommen waren, dass die Wahlen, nach denen wir uns so gesehnt hatten, auch jetzt keine Wahlen mehr waren, weil alle Parteien einander so ähnelten, dass, was immer man auch wählte, das Gleiche herauskam, wenn ich den beiden das erzählt hätte, wären sie in lautes Freudengeheul ausgebrochen, hätten mit ihren Greisenfingern auf mich gezeigt und gejubelt, das hätten wir nun davon, davor hätten sie uns vierzig Jahre bewahrt und gewarnt, aber wir seien den Rattenfängern nachgelaufen, hätten den einzigen Hort der Menschlichkeit zerstört und unser Unglück gewählt.
Nein, kein Wort würde ich mit diesen lächerlichen Irren noch reden, ihnen keine Minute dieses sonderbaren Tages, der doch Olga gehörte, mehr opfern. Seit sie mir über den Weg gelaufen waren, breitete sich von Minute zu Minute etwas Dumpfes in mir aus, als schrumpfte mein Hirn und verklumpte mein Blut. Eine alte, fast vergessene Wut begann sich in mir zu regen, und ich dachte an den Tag, an dem wir mit einem Taxi zum Bahnhof Friedrichstraße und dann mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo gefahren waren, wo Hendriks Lektor uns erwartete und in eine für zwei Monate angemietete Wohnung brachte. Fanny weinte die ganze Fahrt über, weil sie ihre Freundin Franziska nun nie wieder sehen würde und mein Versprechen, dass ihre Großeltern sie aber oft besuchen dürften, sie nicht tröstete. Die Wohnung war dunkel und vollgestellt mit erdfarbenen Möbeln, die aussahen, als hätte man sie vom Sperrmüll geholt. Es war eine trostlose Ankunft. Der Lektor hatte eine Flasche Champagner und für Fanny eine Cola im Kühlschrank bereitgestellt. Ich hätte glücklich sein sollen, wenigstens dankbar. Wir waren entkommen, Millionen Menschen beneideten uns, die nicht so unbrauchbare Staatsbürger waren wie der Schriftsteller Hendrik Kaufmann, der mit seinen feindlich negativen Ansichten nur Unruhe stiftete und die Leute aufwiegelte. Wir hatten nicht durch einen Tunnel kriechen, nicht einen mit Selbstschussanlagen gesicherten Zaun überwinden müssen, wir hatten nicht Jahre im Gefängnis gesessen in der Hoffnung, der Westen würde uns eines Tages vielleicht freikaufen. Wir hatten einfach gehen dürfen, unsere Bücher und Möbel packen, mit einem Taxi zur Friedrichstraße fahren, die Ausreisepapiere vorlegen für den Staatsfeind Kaufmann, dessen Ehefrau Ruth
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