Zwischenwelten (German Edition)
seit Jahren niemand mehr wohnt.«
»Nein, das kann nicht sein.« Tio dreht sich um und betrachtet Haus und Hof noch einmal genau. »Drinnen stehen Möbel. Auf jeden Fall hab ich einen Tisch gesehen und am Fenster zwei Stühle. Auf dem Tisch steht eine Vase mit Blumen – nicht verwelkt, nicht alt und auch nicht aus Plastik. Es ist einfach niemand zu Hause. Ob die vielleicht ihr Haus überstürzt verlassen haben?« Er mustert den Schlamm zu ihren Füßen. »Hier sind Spuren. Abdrücke von Füßen und Rädern.«
»Vielleicht sind die Bewohner gestorben«, sagt Ayse mit gerümpfter Nase. Sie wirft noch einen Blick in den Wohnraum des Hauses und tritt unwillkürlich einen Schritt zurück. »Mensch, vielleicht liegt da drin irgendwo eine Leiche.«
»Fällt dir nicht was Lustigeres ein?«
»Hier ist es überall so still«, murmelt Ayse. »Nicht nur hier beim Haus, sondern …« Sie zeigt mit dem Arm um sich. »Als ob hier eine Epidemie oder so was geherrscht hätte. Wie in einem Gruselfilm.«
Ein plötzlicher Schrei durchbricht die Stille. »Kraaa!« Vor Schreck springen Tio und Ayse in die Luft. Tio spürt sein Herz in der Kehle schlagen und hofft, dass das Mädchen neben ihm nicht von ihm erwartet, dass er sich jetzt wie ein Held benimmt. Er kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal eine solche Angst gehabt hat.
Einen Moment lang bleiben sie noch zögernd stehen, doch dann scheinen sie beide gleichzeitig zu beschließen, dass sie es hier nicht angenehm finden, und ohne sich darüber zu verständigen, drehen sie sich um und rennen weg.
Als sie an einem Verschlag aus Wellblech vorbeiflitzen, fliegt dort mit Gekrächze und lautem Flügelschlag eine Krähe heraus.
»Mensch!«, faucht Ayse. »Der Schrei, das war nur ein Vogel.«
Aber sie hören nicht auf zu rennen.
Erst als sie völlig außer Atem auf dem Weg zum Dorf sind, trauen sie sich, langsamer zu werden.
Sie schauen noch einmal zurück. Von hier aus wirkt alles lange nicht so unheimlich. Sie sehen nun, dass ein paar Ziegen auf einer Weide neben dem verlassenen Hof herumlaufen und über dem Dach der Scheune Schw alben kreisen.
Jetzt genie ren sie sich ein bisschen voreinander und laufen schweigend nebeneinander her, den Blick stur geradeaus auf das Dorf oder die kleine Stadt vor ihnen gerichtet. Ob sie dort auf Menschen treffen würden?
Es ist eine schöne kleine Stadt. Sie liegt an einem Binnenmeer, einem Meeresarm, der weit in das Land hineinreicht. Auf dem Wasser schaukeln Holzb oote, die an einer Kette festgemacht sind, die unter der Wasseroberfläche verschwindet. Sie schwanken leicht auf und nieder und machen leise klatschende Geräusche – angenehme Geräusche, passend für eine klei ne Stadt, die ein richtiger Touristenort sein könnte. Wenn es dort Menschen gäbe.
Menschen, die in den Häusern wohnen und über den Marktplatz gehen. Menschen, die auf der Terrasse vor dem Restaurant am Wasser Platz nehmen und das Tagesmenü bestellen, sodass der Geruch von gebratenem Fisch und Pommes die Luft erfüllt. Menschen, die winken und rufen und lachen und die Stille mit Geräuschen füllen.
Aber da ist niemand, und das einzige Geräusch, das zu hören ist, stammt von einem leichten Wind und dem Schaukeln der Boote.
»Ich finde das furchtbar«, meint Ayse. »Wo sind die denn alle? Sind sie tot? Oder sind alle zusammen umgezogen? Echt unheimlich.«
»Ja, ich find es auch nicht besonders schön«, gibt Tio zu und lässt seinen besorgten Blick über die leeren Häuser schweifen.
Sie haben schon das ganze Städtchen gesehen, sind durch alle Straßen und Gassen geschlichen, immer vorsichtiger und mit wachsendem Unbehagen.
Die Geschäfte sind geschlossen, aber die Auslagen in den Schaufenstern weder verstaubt noch verblichen. Die Häuser sind leer und verlassen, aber nicht verfallen.
»Langsam kriege ich Hunger«, sagt Ayse. »Mein Magen knurrt schon richtig.«
»Meiner auch.«
»Dann sollten wir uns vielleicht auf die Suche nach was zu essen machen.«
»Meinst du, hier gibt es was?«
»Die Menschen, die hier gewohnt haben, haben sicher was dagelassen. Ich hab einen Supermarkt gesehen, wir sind daran vorbeigekommen. Gleich bei dem Turm, du weißt schon.«
Tio kann sich nicht an den Supermarkt erinnern und lässt sich von Ayse führen, die den Weg ohne Probleme findet.
»Der ist bestimmt abgeschlossen«, sagt Tio, während Ayse auf die Türen des Geschäfts zugeht.
Sliffff. Mit einem leichten Zischen gleiten die Türen auf, als ob es das
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