Zwischenwelten (German Edition)
sitzen, ohne zurückzuschlagen! Wir sind doch keine dummen Schafe!«
Von der Begeisterung ihres Bruders angesteckt, klatscht Sirje in die Hände, als sich plötzlich ein Funkenregen hell wie ein Vulkanausbruch vor dem dunklen Himmel abzeichnet.
Ayse beißt sich auf die Lippen und schweigt. Sie hat die Hände um die Zaunlatten geklammert und hofft, dass sich Tio weit weg von dieser Gefahr befindet. »Ist es das Runjidorf unten am Fluss?«
Zu ihrer großen Erleichterung schüttelt Sirje den Kopf und antwortet: »Nein, das liegt mehr in die Richtung. Das da ist beim Hafen der Runji. Ich glaube, dass sie eins von den Lagerhäusern in Brand gesteckt haben.«
Sie schauen noch eine Weile zu, bis Ayse genug davon hat und zu dem beinahe blauschwarz gewordenen Himmel über ihrem Kopf aufblickt. »Ich gehe mal nach Hause, sonst wird es zu dunkel.«
»Thorpa bringt dich doch«, sagt Sirje. »Er bringt dich mit dem Wagen.«
»Nein, das ist nicht nötig!« Wohin soll er sie denn bringen? Ayse versucht sich vorzustellen, was Thorpa für ein Gesicht machen würde, wenn sie sich bei der schwarzen Kiste mitten im Wald absetzen ließe.
Doch Thorpa und Sirpa sind unerbittlich. Ein junges Mädchen darf in der Dunkelheit nicht alleine gehen, und so bugsieren sie sie auf dem Wagen.
Ayse fällt nichts anderes ein, als sich in die kleine Hafenstadt bringen zu lassen. »Ein paar aus meiner Familie sind heute Abend in der alten Herberge. Ich hab versprochen, auch dahin zu kommen«, sagt sie schnell, als sie den misstrauischen Blick von Thorpa bemerkt. Vielleicht ist er nur enttäuscht, weil er eigentlich die großen Zelte sehen wollte, von denen sie gesprochen hat. Es kann aber auch sein, dass er schlicht der Meinung ist, dass ein Mädchen in ihrem Alter nun langsam nach Hause müsste, anstatt noch in der Wirtsstube eines Gasthauses rumzuhängen. »Ja, die Leute von der Wanderbühne lieben die Geselligkeit. Sie werden schon ein paar Bier geschluckt haben! Zum Glück müssen wir nicht so früh raus«, sagt sie leichthin über das Rattern der Wagenräder hinweg. Ihre Stimme klingt unnatürlich hoch, und Thorpa runzelt die Stirn.
Da läuft jemand vor ihnen auf dem Weg, und Thorpas Wagen wird langsamer, um vorsichtig an dem Mann vorbeizufahren.
Es ist ein junger Typ, der mit schnellen Schritten den Weg entlangeilt, und als der Wagen neben ihm ist, blickt er auf.
Ayse hält vor Schreck den Atem an. Es ist der junge Mann vom Nachmittag!
»Hallo«, grüßt Thorpa und nickt ihm freundlich zu. »Das Feuer gesehen?«
»Ja, das war endlich mal wieder ein Volltreffer, was?«, antwortet er und lässt seinen Worten ein seltsames Gekicher folgen. Es klingt wie das Wiehern eines erkälteten Pferdes. Seine Augen lachen allerdings nicht mit, sie sind rund und starr, als ob tief in seinem Inneren eine stille Wut brodeln würde.
Thorpa streckt den Daumen hoch, und dann sind sie an dem Typ vorbei.
Ayse schau noch einmal nach hinten. Dieses komische Lachen! Der Junge klang total gestört. Und was macht er hier so nahe beim Haus von Thorpa und Sirpa? Ist er ihr etwa bis hierher gefolgt? Hat er vielleicht gehofft, sie würde heute Abend alleine nach Hause gehen? Plötzlich ist Ayse sehr froh, dass Sirpa und Thorpa sie nicht ohne Begleitung in der späten Dämmerung zurückgehen lassen wollten. Wenn sie nun hier entlanggelaufen wäre, und der Junge wäre aus dem Gebüsch gesprungen und hätte ihr den Weg versperrt! Sie muss schlucken. Schweigend lässt sie sich bis zur alten Herberge fahren, und in Gedanken versunken verabschiedet sie sich von Thorpa. Gerade noch rechtzeitig denkt sie daran, sich bei ihm besonders freundlich zu bedanken – für das Essen, für das Bringen, für die Gastfreundlichkeit.
In der warmen Gaststube der alten Herberge genießen die Leute Essen und Trinken, es wird laut geredet und gelacht, und hier und da, bekommt Ayse mit, wird auf den Brand angestoßen.
Sie beschließt, über Nacht hierzubleiben. Wenn sie zurück in die unbewohnte Stadt laufen wollte, müsste sie wieder durch die Dunkelheit der engen Straßen und Gassen, um zur Treppe am Kai zu gelangen. Der Junge hat ihr Angst gemacht. Ob er wohl schon die Stadt erreicht hat? Vielleicht hat er längst begriffen, dass sie oft in der Nähe des Hafens zu finden ist, und dann könnte sie dort leicht auf ihn stoßen. Lieber bleibt sie hier bei all den Menschen.
Eine Frau mit Schürze kommt auf Ayse zu und schaut sie fragend an.
»Kann ich … hm … hierbleiben?«, fängt
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