Zwölf Wasser
Sie verstand so genau, was ihn quälte. Wäre es nicht möglich, dass alles, was über sie erzählt wurde, verfälscht war? Dass die Macht sie nicht nur zerstört und vertrieben, sondern auch Lügen über sie verbreitet hatte? Was würde man wohl über Babu erzählen – im Langen Tal, bei den Nogaiyern und sogar an der Mühle? Ganz sicher nichts Gutes und, ob gewollt oder ungewollt, auch nicht unbedingt die Wahrheit.
Babu ließ den Kopf hängen, sah auf seine Hände, die die Zügel hielten. Der Braune stand ganz still, wartete. Der Wolf war ein Stück zurückgelaufen und saß nun, sich die Lefzen leckend und ebenfalls wartend, in einiger Entfernung auf seiner eigenen Spur.
»Ich weiß nicht«, sagte Babu nur.
Es ist gut, Babu. Ich verstehe das. Was hältst du davon, wenn wir eine Abmachung treffen? Du überlässt eine Zeit lang mir die Führung – nur einige Tage. Ich werde dir Macht verschaffen. Nicht viel natürlich, nur so viel, dass du eine Ahnung bekommst, und eben so viel, wie ich in einigen Tagen erreichen kann. Und wenn du dann nicht überzeugt bist, verlasse ich dich. Ich verspreche: Ich verlasse dich und kehre niemals wieder. Denn glaube mir: Ich mag nicht mit jemandem zusammen sein, der mich verachtet. Der mich nicht will. Es ist zu erniedrigend und ich habe in meinem Leben genug Schmach erleiden müssen.
Babu nickte. Auch er verstand sie gut. Er verstand ihren Zorn und ihre Trauer – er verstand ihre Eigenheit. Warum sollte erhart gegen sie und sich selbst sein? Hatten sie beide nicht schon genug Härte erlitten?
»Also gut: drei Tage.«
Oh, das ist sehr wenig. Wir müssen über den Fluss und dann weiter südwärts. Ich bitte dich um eine Zehne – dann ist dieses Solder zu Ende. Dann kannst du entscheiden, ob du mit dem neuen Zeitabschnitt auch ein neues Leben beginnen möchtest.
»Abgemacht: Eine Zehne, bis zum Ende des Solders. Und was wirst du nun tun?«
Warte ab, Babu. Es wird dir gefallen.
Er glaubte, einen Kuss auf seiner Wange zu spüren, und ihre Dankbarkeit durchströmte ihn wie ein Schluck heiße Milch. Babu nahm die Zügel wieder auf, der Wolf gab ein kurzes, heiseres Kläffen von sich. Dann sprang er mit langen Sätzen voraus, ein schwarzer Schatten vor dem entfernten Silberglanz des großen Stroms.
9
Der alte Mann war durchgefroren, aber seine Augen leuchteten, als er ihnen auf dem Steg entgegenging, die Leine fing und das Boot festmachte. Felt und Reva hatten es von Teleia geliehen; sie käme ohnehin nicht dazu, in die Stadt zu fahren, hatte sie gemeint. Und Melrunden war nun zu alt, besonders für den Rückweg, der zu Fuß bewältigt werden musste, weil die Weiße Aelga stromaufwärts nicht befahrbar war.
Ein wenig wie früher sei das, hatte Teleia lächelnd gesagt, während sie Brot und Öl ins Boot lud, früher hätten ihre Schwestern das jeden Lendern gemacht: den Teil von dem, was die Sedrowes ihnen schenkten und was sie in einem Solder nicht selbst brauchten, an die Menschen von Gaspen weitergegeben. ZumDank hätten sich immer einige junge Männer gefunden, die die Schwestern auf dem Rückweg zur Mühle mit Pferden begleiteten und dabei das Boot wieder hinauftrugen. Ein ganz besonderes Boot sei das, hatte Teleia weiter erzählt, ein Boot, dessen Bauch genauso oft im kühlen Dunkel des Wassers gewesen sei wie im warmen Licht der Sonne. Und schöne Zeiten seien das gewesen für ihre Schwestern, leichte Zeiten, in denen sie lachen konnten und in den Armen junger Männer träumen. Dieses Boot war auch ein Bett für Liebende; es hatte in Lendernwiesen gelegen, von oben war Sternenlicht hineingefallen. Aber wenn das Boot, die jungen Männer und die Schwestern dann bei der Mühle angekommen seien, sei es mit der Liebe bald wieder vorbei gewesen. Denn sie hielt immer nur einen Lendern lang, sie wuchs nicht weiter und blieb unfruchtbar. Kinder hätten ihre Schwestern nämlich nicht mehr empfangen können, nachdem sie dem Jägersmann hatten zu Diensten sein müssen. Schlussendlich konnten sich die Schwestern doch nur aufeinander verlassen und so blieben sie ihr Leben lang beisammen.
Nun aber würde Teleia bald ganz allein sein, denn die Ältere war bereits vor vielen Soldern gestorben und auch Melrundens langes Leben ging zu Ende. Als Felt sich von der Hüterin verabschiedete, hatte er dennoch keine Trauer in dem runden, rosigen Gesicht bemerkt.
»Sorge dich lieber um dich selbst, Felt«, hatte sie ihm in ihrer direkten Art gesagt. »Überlege dir, wie du es
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