Zyklus der Erdenkinder 01 - Ayla und der Clan des Bären
sie aufstand, um ihre Schleuder zu holen, und sie ließ sich wieder in den Schlamm fallen.
Das Mädchen war tollkühn gewesen. Zoug hätte es niemals für möglich gehalten, dass einer es wagen würde, nur mit einer Schleuder bewaffnet ein reißendes Tier zu jagen. Immer wurde ein zweiter Jäger mitgenommen, der einem in der Not zu Hilfe kommen konnte. Doch dieses Mädchen, das kaum noch fehlte, wenn es schoss, hatte nicht bedacht, was geschehen könnte, wenn ihr Stein bei einem reißenden Tier danebenging. Ayla war so verschreckt und im Kopf so durcheinander, dass sie beinahe vergessen hätte, ihren Korb aus dem Buschversteck zu holen, als sie zur Höhle zurückrannte.
"Ayla? Was hast du? Du bist ja voller Schlamm!" Besorgt schlug Iza die Hände über dem Kopf zusammen.
Des Mädchens Gesicht war aschfahl. Irgend etwas musste ihr einen heillosen Schreck eingejagt haben.
Ayla schüttelte nur den Kopf und lief in die Höhle. Iza wusste, dass etwas geschehen war, was das Mädchen sie nicht wissen lassen wollte. Sie hätte gerne weiter in sie dringen wollen, aber dann ließ sie es doch sein und hoffte, Ayla würde sich von selbst ihr anvertrauen.
Iza wurde immer das Herz schwer, wenn Ayla allein unterwegs war, doch jemand musste ja die Heilkräuter für sie sammeln. Sie selbst konnte sich diese weiten Gänge nicht mehr zumuten, Uba war noch zu jung, und keine der anderen Fraue n war bewandert genug, um die richtigen Pflanzen zu finden. Sie musste Ayla gehen lassen und hoffte immer wieder, das Mädchen würde zeitiger kommen.
Am Abend war Ayla sehr still und legte sich früh nieder. Schlafen konnte sie nicht. Unablässig sprang der Luchs auf sie los, und wieder und wieder schlug sie auf ihn ein. Irgendwann umfing sie dann der Schlaf.
Ayla erwachte an ihrem eigenen Schrei.
"Ayla! Ayla!" rief Iza und wollte wissen, was ihr fehlte.
Mit zitternden Händen bedeutete Ayla, dass sie geträumt habe. Sie sei in einer kleinen Höhle gewesen, und ein Höhlenlöwe hätte sie packen wollen.
Zart strich die Medizinfrau über Aylas Haar.
"Du hast lange keine bösen Träume mehr gehabt, Ayla. Warum jetzt? Hat dir etwas Angst gemacht, als du im Wald warst?"
Ayla nickte und senkte den Kopf. In der noch finsteren Höhle, die nur vom rottrüben Schein des glosenden Feuers erhellt wurde, war der Ausdruck schuldbewusster Beklommenheit auf ihrem Gesicht nicht zu sehen. Seit sie das Zeichen ihres Totems gefunden hatte, war in ihr nie mehr das Gefühl gewesen, etwas Verbotenes zu tun, wenn sie auf Jagd ging. Jetzt zweifelte sie, ob es wirklich ihr Zeichen gewesen war. Vielleicht hatte sie es nur so gedeutet. Vielleicht sollte sie doch nicht jagen. Schon gar nicht so gefährliche Tiere. Wie hatte sie auch glauben können, ein Mädchen dürfte auf einen Luchs Jagd machen?
Iza nahm das Mädchen bei den Schultern.
"Mir ist nie wohl zumute, wenn du alleine fortgehst, Ayla. Du kommst immer so spät zurück. Ich weiß, du wanderst gern für dich; doch raubt es mir die Ruhe, weil der Wald voll lauernder Gefahren ist."
Iza sah mit Erleichterung, dass Ayla sich ihren Rat zu Herzen zu nehmen schien. Sie hielt sich fast immer in der Nähe der Höhle auf, und wenn sie doch einmal auszog, um Kräuter zu sammeln, kehrte sie rasch zurück. Wenn Ayla keine Frau fand, die bereit war, sie zu begleiten, hetzte sie ständige Furcht. Bei jedem Schritt erwartete sie, ein lauerndes reißendes Tier zu entdecken, das sich augenblicklich auf sie stürzen würde. Jetzt konnte sie verstehen, warum die Clan-Frauen nicht allein auszogen, um zu sammeln, und warum sie immer von neuem verwundert waren über Aylas Verlangen, sich allein auf den Weg zu machen. Früher hatte sie nicht gewusst, dass überall so viele Gefahren lauerten; diese eine erlebt zu haben, ließ sie jedoch ihre Umgebung mit anderen Augen sehen. Selbst Tiere, die nicht reißend waren, konnten die Erdlinge bedrohen. Keiler mit spitzen Hauern, Pferde mit schlagenden Hufen, Hirsche mit wuchtigem Geweih, Bergziegen und Schafe mit todbringenden Hörnern, sie alle waren fähig zu töten, wenn sie gereizt waren. Ayla schüttelte bei diesem Gedanken den Kopf und wusste nicht, woher sie ihre Beherztheit genommen hatte, jagen zu gehen.
Da war niemand, dem Ayla sich hätte anvertrauen können; da war niemand, der ihr erklären würde, dass Furcht die Sinne schärfte und Angst den Körper lahmte; da war niemand, der sie ermutigte, die Schleuder wieder zur Hand zu nehmen, ehe die Furcht zur Angst wurde und sie für immer
Weitere Kostenlose Bücher