Zyklus der Erdenkinder 01 - Ayla und der Clan des Bären
fehlten? Ein listiges Lächeln kam in des Mädchens Gesicht auf. Ayla beschloss, den Bau des Vielfraßes auszumachen. Eilig holte sie ihren Korb und lief wieder aus der Höhle. Nicht weit von der Stelle, wo das Tier im Wald verschwunden war, tauchte auch sie in das Grün der Büsche.
Die scharfen Augen tasteten über den Boden und entdeckten den leichten Abdruck einer Klaue mit langen, spitzen Krallen, ein Stück weiter einen geknickten Stängel. Ayla verfolgte die Spur. Wenig später hörte sie, erstaunlich nahe der Höhle, ein Scharren und Kratzen. Vorsichtig schlich sie weiter, streifte kaum ein Blatt und sah dann den Vielfraß mit vier Jungen, die sich fauchend und knurrend um das Dörrfleisch zankten. Sachte setzte sie den Korb ab, zog die Schleuder hervor und legte sich einen Stein zurecht.
Dann verharrte sie, und ihr Körper spannte sich. Der rechte Augenblick war abzupassen, um einen genauen Treffer zu erzielen. Der Wind schwang plötzlich um und trug dem listigen Vielfraß befremdliche Witterung zu. Schnüffelnd hob das Tier den Kopf in die Luft. Auf eine solche Gelegenheit hatte Ayla gewartet. Blitzschnell schleuderte sie den Stein ab. Das Tier gewahrte die Bewegung, doch schon zu spät. Vom Stein getroffen, wurde es ein Stück weit weggeschleudert und blieb dann reglos liegen. Die vier Jungen jagten erschreckt davon. Ayla trat aus dem Gebüsch und beugte sich hinunter, um sich das Tier näher anzusehen. Der marderähnliche Räuber war von der Schnauze bis zu der Spitze seines buschigen Schwanzes etwa drei Fuß lang und trug ein zottiges, schwarzbraunes Fell. Vielfraße waren unerschrockene Fleischfresser, so scharf, dass sie sogar reißenden Tieren, die größer waren als sie selbst, die Beute streitig machten, so furchtlos, dass sie den Erdlingen das Fleisch beinahe unter der Nase wegstahlen, so schlau, dass sie sogar die Vorräte zu entwenden wussten. Ähnlich wie Stinktiere konnten sie Übelriechendes versprühen und machten dem Clan noch mehr zu schaffen als die Hyäne. Der Stein aus Aylas Schleuder hatte das Tier genau über dem Auge getroffen, an der Stelle, auf die sie gezielt hatte. Dieser Vielfraß wird uns bestimmt nichts mehr wegholen, dachte Ayla befriedigt und frohlockte. Und das Fell schenke ich Oga. Sie griff nach ihrem scharfen Schaber, um den Vielfraß zu häuten. Doch augenblicklich hielt sie inne.
Was mache ich da? Ich kann Oga das Fell nicht schenken. Ich kann es keinem schenken. Nicht einmal behalten kann ich es. Ich darf nicht jagen. Wenn sie wüssten, dass ich den Vielfraß getötet habe! Ayla hockte sich neben das tote Tier und fuhr niedergeschlagen mit ihren Fingern durch das zottige Fell. Das Feuer der Freude in ihrem Herzen war erloschen.
Sie hatte ihr erstes Tier erlegt. Sicher, es war kein riesiger Bison, doch es war mehr als Vorns Stachelschwein. Doch ihr zu Ehren gab es keine Feier, ihre Aufnahme in die Reihe der Jäger zu bestätigen, auch kein Festessen, nicht einmal lobende Blicke und herzhafte Schulterschläge, wie sie Vorn zuteil wurden, wenn er seine lächerliche Beute zeigte. Und wenn sie mit dem Vielfraß zur Höhle zurückkehrte, empfingen sie nur entsetzte Blicke, und harte Bestrafung würde folgen. Dass sie dem Clan doch nur helfen wollte oder dass sie sich zur trefflichen Jägerin entwickelt hatte, das würde nichts gelten. Sie war eine Frau. Frauen jagten nicht. Frauen töteten keine Tiere.
Ayla ließ die Arme hängen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Ich habe es gewusst; die ganze Zeit habe ich es gewusst. Schon bevor ich zu jagen anfing, bevor ich Zougs alte Schleuder vom Boden aufhob. Immer habe ich gewusst, dass ich nicht jagen darf.
Der mutigste der jungen Vielfraße kam aus seinem Versteck und beschnüffelte zaghaft das tote Muttertier. Diese Jungen werden uns genauso zu schaffen machen wie die Alte, ging es Ayla durch den Kopf. Sie sind fast ausgewachsen. Zwei werden bestimmt überleben. Ich muss das tote Tier beseitigen. Weit weg. Die Jungen folgen sicher dem Geruch. Ayla stand auf und zog den toten Vielfraß am Schwanz tiefer in den Wald hinein. Dann eilte sie davon, um nach Kräutern für Iza Ausschau zu halten.
Der Vielfraß war nur der erste Räuber, der ihrer Schleuder zum Opfer fiel. Marder, Nerze, Frettchen, Otter, Wiesel, Dachse, Hermeline, Füchse und die kleinen gräulichschwarz gestreiften Wildkatzen folgten nach. Ayla konnte nicht wissen, dass ihr Entschluss, nur auf reißende Tiere Jagd zu machen, sich bedeutsam für sie auswirkte.
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