Zyklus der Erdenkinder 01 - Ayla und der Clan des Bären
bei beiden Würfen. Doch sie hatte den Bogen heraus.
Sie stieg von nun an jeden Tag zu ihrer Bergwiese hinauf, um zu üben. Noch immer hielt eine unbestimmte Angst sie davon ab, wieder zu jagen; doch der unbezähmbare Drang, die neue Wurfart zu erproben, belebte Aylas Lust, mit der Waffe zu üben.
Als die Zeit kam, wo die bewaldeten Hügel in rotgoldener Herbstlichkeit erglühten, war sie mit zwei Steinen ebenso treffsicher wie vorher mit einem. Ein heißes Gefühl des Stolzes und der Befriedigung durchrann sie jedes Mal, wenn ein doppeltes, rasch aufeinanderfolgendes Krachen ihr meldete, dass beide Steine den Pfahl getroffen hatten.
An einem klaren Spätherbsttag beschloss Ayla, schon in aller Frühe zu ihrer Wiese hinaufzusteigen, um die Haselnüsse aufzusammeln, die von den Büschen gefallen waren. Als sie gerade den Bach übersprang, hörte sie das grelle Lachen und gierige Geschnüffel einer Hyäne; und als sie mit wenigen Sätzen die Lichtung erreichte, sah sie das hässliche Tier, halb vergraben in den Eingeweiden einer Rehkuh.
Wut und Empörung flammten in Ayla auf. Wie konnte dieses Scheusal es wagen, ihre Wiese zu beschmutzen, ihr Reh zu überfallen? Schon wollte sie auf die Hyäne losstürzen und dieses Biest verscheuchen, aber dann ließ sie es doch lieber bleiben. Hyänen waren reißende Tiere und ihre Zähne kräftig genug, die großen Beinknochen von Huftieren zu zermalmen. Und wenn sie ein Tier geschlagen hatten, so waren sie nicht so leicht von ihrer Beute zu vertreiben. Ohne sich noch lange zu besinnen, warf Ayla ihren Korb ab und holte ihre Schleuder heraus. Während sie sich Fuß vor Fuß zu einem Felsvorsprung schlich, der sie decken sollte, bis sie bereit war, suchten ihre Augen den Boden nach Steinen ab. Und schon hob das gefleckte Tier den Kopf, witterte und wandte sich dem Felsen zu.
Ayla sprang hervor, schleuderte den ersten Stein ab und ließ sogleich den zweiten folgen. Gleich hatte sie einen dritten und vierten Stein zur Hand, um, wenn nötig, einen zweiten Durchgang abzuschießen. Aber schon der erste Stein hatte getroffen. Die Hyäne brach zusammen, zuckte kurz und regte sich nicht mehr. Ayla blickte um sich; weit und breit war nichts zu sehen von anderen Hyänen. Dann näherte sie sich vorsichtig dem Tier und hielt die Schleuder bereit. Auf halbem Weg sah sie einen großen Rehschenkelknochen, den sie aufnahm. Mit einem unbarmherzigen Schlag sorgte sie dafür, dass die Hyäne sich nicht mehr erheben würde.
Ayla blickte auf das tote Tier und ließ die Keule fallen. Ihre Hand fuhr zum Mund, als wollte sie einen Schrei unterdrücken. Ich habe eine Hyäne erlegt, schallte es in ihrem Kopf. Ich habe mit meiner Schleuder eine Hyäne erlegt. Nicht ein kleines Tier. Nein, ein Tier, das mich töten könnte. Bin ich jetzt eine Jägerin? Eine richtige Jägerin? Doch kein freudiger Überschwang wollte sich einstellen, keine Erregung oder auch nur Befriedigung darüber, ein gefährliches Tier erlegt zu haben. Das, was sie verspürte, ging tiefer, nicht in den Kopf, sondern in ihr Herz und löste ein Gefühl von Demut in ihr aus. Es war die Erkenntnis, sich selbst bezwungen zu haben. Und mit tief empfundener Ehrfurcht bedeutete Ayla dem Geist ihres Totems: "Ich bin nur ein Mädchen, Großer Höhlenlöwe, und die Wege der Geister sind mir fremd." Aber, und so fuhr sie mit feierlicher Gebärde fort, sie glaube, dass sie jetzt mehr sähe. Der Luchs hatte für sie eine Prüfung sein sollen wie Broud. Und Creb habe ihr immer erklärt, dass mächtige Totems Hohes forderten, aber er habe sie nie wissen lassen, dass die größten Gaben, die sie einem bescherten, im Inneren zu finden seien. Er habe sie nie wissen lassen, wie ihr ums Herz sein würde, wenn sie endlich begreife. Die Prüfung wäre nicht irgendeine schwere Aufgabe; das Wissen, sie bewältigen zu können, sei die Prüfung!
Ayla kniete nieder und hob die Hände gegen den Himmel. "Ich danke dir, dass du mich erwählt hast. Großer Höhlenlöwe. Ich will mich deiner immer würdig zeigen."
Als das Herbstfeuer in den Baumkronen allmählich erlosch und welke Blätter wie gelber Schnee zu Boden schwebten, kehrte Ayla in den Wald zurück. Sie verfolgte die Spuren der Tiere, die zu jagen und zu erlegen sie sich entschlossen hatte, und machte sich mit ihren Lebensgewohnheiten vertraut. Doch Ayla achtete sie jetzt sowohl als Geschöpfe der Natur als auch als nicht zu unterschätzende Gegner. Oftmals, wenn sie nahe genug war, um zur Schleuder zu
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