Zyklus der Erdenkinder 03 - Ayla und die Mammutjäger
das er eingetauscht – und
für das er teuer bezahlt hatte; allerdings hatte er vom ersten
Augenblick an, da er es gesehen, gewußt, daß es seines werden
müsse. Eines der weiter nördlich beheimateten Lager hatte vor
einigen Jahren einen Handelszug zu einem Volk weiter im
Westen unternommen, das entfernt mit den Mamutoi verwandt
war, und der Anführer hatte als Unterpfand der wechselseitigen
Bande und künftiger freundschaftlicher Beziehungen dieses
Hemd als Geschenk bekommen. Er hatte es eigentlich nicht
hergeben wollen, doch war Ranec so hartnäckig geblieben und
hatte ihm schließlich so viel dafür geboten, daß er es ihm nicht
mehr hatte abschlagen können.
Die meisten Kleidungsstücke, welche die Angehörigen des
Löwen-Lagers anhatten, waren in verschiedenen Braun-, tiefen
Rot- und dunklen Gelbtönen gefärbt und mit hellen
Elfenbeinkügelchen, Tierzähnen, Muscheln und Bernstein sowie
mit Fellen und Federn verziert. Ranecs Gewand war von einem warmen Elfenbeinton, fast so hell und leuchtend wie echtes Weiß, und er wußte, daß diese Farbe einen hinreißenden Kontrast zu seiner dunklen Haut bildete; noch hinreißender jedoch war die Verzierung daran. Sowohl der Vorder- als auch der Rückenteil bildeten den Untergrund eines Bildes, das mit den Borsten eines Stachelschweins und feinen Schnüren geschaffen worden war, die in kraftvollen, leuchtenden
Grundfarben eingefärbt waren.
Vorn auf dem Hemd prangte das abstrakte Portrait einer
sitzenden Frau, das aus einer Anordnung von konzentrischen
Kreisen in Rot-, Orange-, Blau-, Schwarz- und Brauntönen
bestand; ein Ensemble von Kreisen stellte ihren Bauch dar, zwei
weitere ihre Brüste. Bogen und Kreise innerhalb von Kreisen
deuteten Hüften, Schultern und Arme an. Der Kopf war ein auf
einem Dreieck beruhendes Gebilde mit spitzem Kinn, flachem
Scheitel und geheimnisvollen Linien anstelle von Gesichtszügen.
Leuchtend rote Granaten genau in der Mitte der Brust- und
Bauchkreise sollten offensichtlich Brustwarzen und Nabel
darstellen, und eine Linie von farbigen Steinen – grünen und
rosa Turmalinen, roten Granaten und Aquamarinen – waren an
dem flachen Oberteil des Kopfes befestigt. Die Rückseite des
Hemdes zeigte dieselbe Frau in der Hinteransicht, wobei
konzentrische Kreise oder Kreisausschnitte Gesäßbacken und
Schultern darstellten. Dieselbe Farbfolge wiederholte sich
mehrere Male unten an den leuchtenden Ärmeln.
Ayla war sprachlos und starrte das fremdartige Gewand
offenen Mundes an. Selbst Jondalar war erstaunt. Er war weit
herumgekommen und hatte viele verschiedene Stämme mit
höchst unterschiedlichen Kleidungsgewohnheiten für Alltagswie für Festtagsgelegenheiten kennengelernt. Er kannte
Stachelschweinstickereien, wußte und bewunderte, wie man sie einfärbte und damit Stickereien ausführte. Trotzdem: Ein so eindrucksvolles und farbenprächtiges Kleidungsstück hatte er
noch nie in seinem Leben gesehen.
»Ayla«, sagte Nezzie und nahm ihr den Teller ab, »Mamut
möchte dich einen Moment sehen.«
Sie erhob sich, und alle anderen machten sich daran, das
Essen fortzuschaffen, Teller sauberzukratzen und sich auf die
Zeremonie vorzubereiten. Im Laufe des langen vor ihnen
liegenden Winters sollten eine ganze Reihe von Festen und
Zeremonien abgehalten werden, um etwas Abwechslung und
Freude in die lange, vergleichsweise müßige Zeit
hineinzubringen: das Fest der Brüder und Schwestern, das Fest
der langen Nacht, der Lachwettbewerb, eine Reihe von Feiern
und Festen zu Ehren der Mutter. Aylas Adoption war jedoch
etwas Unerwartetes und daher besonders zu Begrüßendes. Während die Leute zum Herdfeuer des Mammut
hinübergingen, bereitete Ayla – wie Mamut es von ihr erbeten
hatte – die Sachen vor, die sie fürs Feuermachen brauchte. Dann
wartete sie und wurde plötzlich nervös und aufgeregt. Wie die
Zeremonie im großen und ganzen verlaufen sollte, hatte man
ihr erklärt; sie wußte also, was auf sie zukam und was man von
ihr erwartete; aber sie war nicht unter Mamutoi großgeworden.
Allgemeine Einstellungen und Verhaltensweisen waren ihr nicht
zur zweiten Natur geworden, und obgleich Mamut sie offenbar
verstand und bemüht gewesen war, ihre Ängste zu
beschwichtigen, machte sie sich Sorgen, sie könnte etwas
Unpassendes und Unangemessenes tun. Sie saß in der Nähe der
Feuerstelle auf einer Matte und sah den Leuten zu. Aus den
Augenwinkeln heraus sah sie Mamut etwas hinunterschlucken.
Ihr fiel auf, daß Jondalar allein auf ihrer Bettplattform saß.
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