Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
begrüßen. Sie nahm seinen schönen Kopf in die Hände, sah ihm tief in die Augen und schlang ihm dann die Arme um den Hals. Als sie aufstand, schaute Wolf sie fragend an. Sie klopfte sich auf die Schulter, und er sprang hoch, stützte sich mit den Pfoten auf ihren Schultern ab, leckte ihr über Hals und Gesicht und nahm dann sacht ihr Kinn zwischen die Zähne. Als er sie losließ, erwiderte sie die wölfische Geste der Rudelzugehörigkeit und nahm seine Schnauze kurz zwischen ihre Zähne. Das hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr getan, und sie spürte, wie sehr er sich darüber freute.
Erleichtert atmete Proleva aus, als Wolf wieder mit allen vier Pfoten auf dem Boden stand. Sooft sie diesen Austausch auch miterlebte, er erschreckte sie immer noch. Zu sehen, wie die Frau ihre Kehle den Zähnen des riesigen Wolfs darbot, ängstigte sie jedes Mal aufs Neue und führte ihr vor Augen, dass das freundliche Tier ein kraftvoller Wolf war, der mühelos die Menschen töten könnte, zwischen denen er sich frei bewegte.
Nachdem sie ein paarmal durchgeatmet hatte, sagte Proleva: »Nimm dir, Ayla. Es gibt reichlich. Die Zubereitung dieser Morgenmahlzeit war einfach, vom großen Fest waren noch viele Reste übrig. Ich bin froh, dass wir das Essen mit den Lanzadonii veranstaltet haben. Es hat mir gefallen, mit Jerika und Joplaya und ein paar anderen Frauen zusammenzuarbeiten. Jetzt habe ich das Gefühl, sie etwas besser zu kennen.«
Bedauern stieg in Ayla auf. Sie wünschte, die Zelandonia hätten sie nicht so stark beansprucht, denn es hätte ihr auch gefallen, sich an den Vorbereitungen für das Fest zu beteiligen. Mit anderen zu arbeiten, war eine gute Art, sich näher kennenzulernen. Dass sie völlig in ihren eigenen Problemen aufging, machte die Sache nicht besser, dachte sie; sie hätte auch früher kommen können. Sie nahm einen der Becher für diejenigen, die ihr eigenes Trinkgefäß vergessen hatten, und schöpfte ihn aus dem Holzkochbehälter voll mit Kamillentee. Tee wurde morgens immer als Erstes zubereitet.
»Der Auerochse schmeckt besonders gut und saftig, Ayla. Sie setzen schon das erste Winterfett an, und Proleva hat das Gericht gerade aufgewärmt. Du solltest davon probieren«, drängte Marthona. Sie bemerkte, dass Ayla sich nichts zu essen nahm. »Teller sind dort drüben.« Sie deutete auf einen Stapel unterschiedlich großer, meist flacher Scheiben aus Holz, Knochen und Elfenbein.
Von Bäumen, die gefällt und zu Feuerholz zerkleinert wurden, splitterten oft größere Stücke ab, die man rasch zu Tellern und Schalen formen und glätten konnte, Schulterund Hüftknochen von Hirschen, Wisenten und Auerochsen wurden ähnlich bearbeitet und für denselben Zweck verwendet. Die Stoßzähne von Mammuts konnten wie Feuerstein geschlagen werden, doch entstanden dabei weit größere Bruchstücke, die ebenfalls als Teller dienten.
Mammutelfenbein konnte sogar vorgeformt werden. Dazu ritzte man zuerst mit einem Stichel eine kreisförmige Nut hinein. Das zugespitzte Ende eines kräftigen Geweihs oder Horns wurde im genau richtigen Winkel in die Nut gesteckt, und mit Übung und etwas Glück sprang nach einigen Schlägen eines Hammersteins gegen das andere Ende des Geweihs das Elfenbein in der vorgeschnittenen Kreisform heraus.
So viel Arbeit machte man sich allerdings meist nur bei Gegenständen, die verschenkt wurden oder besonderen Zwecken dienen sollten. Derartig vorgeformte Scheiben mit geglätteten, leicht gerundeten Rändern konnten nicht nur als Essgeschirr verwendet werden und waren häufig mit Ornamenten graviert.
»Danke, Marthona, aber ich muss ein paar Sachen holen und dann zu Zelandoni gehen«, sagte Ayla. Unvermittelt hockte sie sich vor die ältere Frau, die auf einem aus Schilf, Binsen und geschmeidigen Zweigen geflochtenen Schemel saß. »Ich möchte dir wirklich danken, dass du seit dem Tag meiner Ankunft so freundlich zu mir gewesen bist. Ich erinnere mich nicht an meine eigene Mutter, nur an Iza, die Clan-Frau, die mich großzog, aber ich stelle mir gerne vor, dass meine wahre Mutter wie du gewesen ist.«
»Ich betrachte dich als meine Tochter, Ayla.« Zu ihrem Erstaunen war Marthona tief gerührt. »Mein Sohn hatte Glück, dich zu finden.« Dann wiegte sie leicht den Kopf. »Manchmal wünschte ich, er wäre mehr wie du.«
Ayla umarmte sie und wandte sich dann an Proleva. »Und dir danke ich auch, Proleva. Du bist mir immer eine gute Freundin gewesen, und ich bin dir so dankbar, dass du dich so
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